Abitur in zwölf Jahren: Zu viel Stoff im Turbo-Abitur
Das verkürzte "G8"-Abitur frustriert und stresst die Kinder, Eltern und Lehrer. Schüler pauken jetzt wöchentlich bis zu 36 Stunden. Die Politik muss nachbessern.
"Marina arbeitet mehr als ich!", Elfi Kister ist empört. Ihre Tochter geht um 6.55 Uhr aus dem Haus, noch vor ihrer Mutter. Wenn die Verwaltungsangestellte abends um 16.30 Uhr zurückkommt, schwitzt Marina noch immer über ihren Hausaufgaben. "Sie hat einen Zehn- bis Zwölfstundentag", klagt die Mutter. "Und das mit 13 Jahren."
Abitur nach zwölf Jahren - für Ostdeutschland ist das nichts Neues. Im Westen haben inzwischen fast alle Bundesländer die Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre verkürzt. Das Saarland machte 2001 den Anfang, 2004 folgten Niedersachsen, Baden-Württemberg und Bayern. Dort hatte 2005 ein Gymnasiallehrer ein Volksbegehren für die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium initiiert, brachte allerdings nur die Unterschriften von 2,4 Prozent der Wahlberechtigten zusammen, 10 wären nötig gewesen. In Rheinland-Pfalz machen die Schüler das Abi nach 12,5 Jahren, ab dem kommenden Schuljahr können Ganztagsgymnasien auch einen G 8-Zweig anbieten.
Die mütterliche Klage ist nicht unbegründet. Marina ist erschöpft, leidet immer wieder unter Kopfschmerzen. Fürs Klavierspielen oder Kunstradfahren bleibt kaum noch Zeit. Viele MitschülerInnen ihres Gymnasiums in Fulda haben Sportverein oder Musikstunden bereits ganz aufgegeben.
Was die Siebtklässlerin Marina so stresst, ist die über Hessen weit hinausgehende Bildungsreform "G8". Hinter dem bedrohlich wirkenden Kürzel steckt das auf acht Jahre verkürzte Gymnasium, das inzwischen in 14 von 16 Bundesländern eingeführt wurde. Hektisch haben es die westdeutschen Bundesländer seit 2001 nach und nach umgesetzt (siehe Kasten). Von einem "Lemmingeffekt" spricht Ernst Rösner vom Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung: "Jedes Bundesland wollte schneller reformieren als das andere."
Kein Fußball
Mit Ausnahme Ostdeutschlands, wo schon vor der Wende das Abi nach zwölf Jahren eingeübt wurde, sind nun die Klagen von Eltern, Lehrern und Bildungsverbänden im Westen überall dieselben: Die Kinder fühlen sich überfordert, müssen zu viel Lernstoff in zu kurzer Zeit in sich hineinstopfen. Neben der Schule bleibt so kaum mehr Zeit für Fußball oder Flötenkurs. Denn an der Gesamtzahl der Unterrichtsstunden bis zum Abitur durfte bei der Reform nicht gekürzt werden. Insgesamt 265 Wochenstunden Unterricht bis zum Abitur seien Pflicht, so die Festlegung der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 1995. Und so wurde mit der Reform kurzerhand einfach die Unter- und Mittelstufe zusammengestaucht. Zum Ende der neunten Klasse müssen die Kinder heute so viel wissen wie früher nach der zehnten. Rund 4 Stunden Unterricht mehr pro Woche waren die Folge, in manchen Klassenstufen müssen nun bis zu 36 Unterrichtsstunden pro Woche gepaukt werden.
"Kann das kindliche Gehirn das überhaupt aufnehmen?", fragte sich Marinas Mutter und traf den Nerv vieler Eltern. Mit anderen betroffenen Familien hat sie die Initiative "Turbo-Abi-Reform" gegründet, um in Fulda und Umgebung Unterschriften zu sammeln. 1.600 sind es inzwischen. Derartige Initiativen sind vielerorts aus dem Boden geschossen. Von der badischen Ortenau über das unterfränkische Kitzingen bis ins schwäbische Göppingen.
"Gestohlene Kindheit"
Inzwischen greift auch der Boulevard das achtjährige Gymnasium an. "So macht die Schule unsere Kinder krank", titelte vergangene Woche die Bild. Und TV-Talker Reinhold Beckmann, selbst Vater von zwei Kindern, 10 und 14 Jahre alt, hielt eine Brandrede gegen das gestauchte Gymnasium: "Das neue Schulsystem stiehlt den Schülern die Kindheit", so Beckmann. "Dahinter steckt eine ungeheuer schlampige Reform."
Dass diese schlampige Reform auch Wählerstimmen kosten kann, hat vor 14 Tagen Hessen gezeigt. Beim Thema Bildung trauten der CDU nur ein Viertel der Bürger eine Problemlösungskompetenz zu, der SPD 40 Prozent. Sie hatte sich vor der Landtagswahl für die Abschaffung des unter Ministerpräsident Roland Koch (CDU) eingeführten achtjährigen Gymnasiums stark gemacht.
Um die Reform zu retten - und die nächsten Wahlen nicht zu verlieren - machen sich deshalb nun insbesondere die unionsregierten Länder daran, an den Problemen herumzudoktern. Schließlich waren es auch die Konservativen, denen von Anfang an viel am Abi nach zwölf Jahren gelegen war. Das Argument: Die deutschen SchülerInnen drücken im internationalen Vergleich zu lange die Schulbank, kommen später in den Beruf und an die Unis. Das G8 sollte die Kinder auch fit machen für den internationalen Wettbewerb.
Nun, wo die Wirklichkeit den Wunsch karikiert, überbieten sich die Unionspolitiker in Änderungsvorschlägen - ohne dabei freilich wieder zum neunjährigen Gymnasium zurückkehren zu wollen. In Bayern, wo im Herbst gewählt wird, will Kultusminister Siegfried Schneider (CSU) bis Ostern die Lehrpläne in Fächern wie Physik, Mathe, Griechisch und Geschichte entrümpeln. Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) will in Biologie, Physik und Chemie Unterrichtseinheiten kürzen und dafür sorgen, dass die SchülerInnen ihre Hausaufgaben bereits in der Schule erledigen können. Und in Hamburg, wo am 24. Februar gewählt wird, hat Bildungssenatorin Alexandra Dinges-Dierig (CDU) vergangene Woche vorgeschlagen, einen Teil der Stunden auf den Samstag zu legen, um die Woche zu entzerren - und dafür umgehend vom wahlkämpfenden CDU-Bürgermeister Ole von Beust eins aufs Dach bekommen, der den Samstag schulfrei halten will. Von Beust selbst hat eine konkrete Kürzung der Wochenstunden bis zum Abi vorgeschlagen von 265 auf 251. Dieser müssten allerdings die Kultusminister aller Bundesländer zustimmen - was am Widerstand Sachsens und Bayerns scheitern dürfte. Doch nicht nur in der Union herrscht Kakophonie. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) hat am Wochenende eine Kürzung des Unterrichts verlangt - sein Schulsenator Jürgen Zöllner ist dagegen.
Und so könnte sich bei der Reform der Reform ein Fehler wiederholen, der bei der Einführung des achtjährigen Gymnasiums in fast allen Ländern gemacht wurde: Sie allzu kurzfristig übers Knie zu brechen.
Hauruck in Bayern
Paradebeispiel ist Bayern, das 2004 das achtjährige Gymnasium wie kein anderes Land im Hauruck-Verfahren eingeführt hat. Dort begann die Reform mit einem veritablen Wortbruch. Noch vor den Landtagswahlen im Jahr 2003 hatte Ministerpräsident Edmund Stoiber am neunjährigen Gymnasium festgehalten - um dann gleich nach der Wahl die Kehrtwende zum Turbo-Abi zu vollziehen. Dass Lehrpläne und Schulbücher so schnell nicht umgekrempelt werden können: Stoiber war's egal.
Bis heute sind die Verwerfungen in Bayern zu spüren. Laut einer aktuellen Umfrage des Bayerischen Rundfunks sind fast 70 Prozent der Bürger unzufrieden mit der Bildungspolitik der Regierung. "Die Schüler sind frustriert, die Eltern sind frustriert, die Lehrer sind frustriert", sagt René Hofstetter, Physiklehrer an einem Gymnasium in Grafing bei München. Hofstetter leidet darunter, dass sein Fach im kürzeren Gymnasium ein Jahr nach vorne gezogen wurde, in die siebte Klasse, ohne aber auf den Mathematik-Lehrplan abgestimmt zu werden. "Die Siebtklässler können nicht mit den Formeln umgehen", klagt er. "Und danach bräuchte ich das Wurzelziehen. Das können die Kinder aber noch nicht." Es sind scheinbare Kleinigkeiten wie diese, die in der Summe ein Reformwerk ausmachen, das an allen Ecken und Enden knarzt - und die Menschen auf die Barrikaden treibt wie lange nicht mehr. "Die Politik hatte die naive Annahme, dass man einer Lok während des Fahrens einfach so die Räder wechseln kann", sagte Schulforscher Rösner. "Und nun sehen sich gerade die CDU-regierten Länder einer Elternfront ausgesetzt, die man sich besser nicht zum Feind macht."
Doch während sich Lehrpläne mittelfristig anpassen lassen, wird sich ein strukturelles Problem so schnell nicht beheben lassen: dass mit dem achtjährigen Gymnasium der Ganztagsunterricht eingeführt wurde - ohne Ganztagsschulen zu schaffen.
Durch die Reform wurde der Nachmittagsunterricht drastisch erhöht, zwei bis drei Mal pro Woche sind nun schon in der sechsten Klasse normal. "Das war die logische Konsequenz", so Schulforscher Rösner. Doch weder genügend Geld noch Personal für den Ganztagsbetrieb haben die Schulen bekommen. Aufenthaltsräume, Mensen für die Mittagspause, Hausaufgabenhilfe am Nachmittag - den reformierten Gymnasien fehlt es hinten und vorne. Ganz zu schweigen von einem pädagogischen Konzept mit aufeinander abgestimmten Lern-, Erholungs-, und Wiederholungsphasen.
Ralph Schröder ist Schulleiter eines Gymnasiums in Schwäbisch Hall und hatte das Glück, mit Fördermitteln des Bundes einen Neubau errichten zu können, der zumindest an drei Tagen in der Woche einen Ganztagsbetrieb ermöglicht. Aber zufrieden ist Schröder mit der Situation dennoch nicht. "Ich bin kein Gegner des achtjährigen Gymnasiums", sagt er. "Aber nicht unter diesen Rahmenbedingungen." Seine Schule ist auf Helfer angewiesen; Ehrenamtliche bieten gegen eine kleine Aufwandsentschädigung am Nachmittag Basketball-AGs, Yoga-Kurse und Filzbasteln an, Schülertutoren helfen anderen bei den Hausaufgaben - im Gegenzug bezahlen die Eltern 100 Euro im Jahr an die Schule. "Eigentlich bräuchten wir mehr Lehrer, um eine richtige Ganztagsschule aufbauen zu können", sagt Schröder. "Aber dafür gibt es kein Geld."
Ganztagsschule normal
Die Ironie der Reform: Die Konservativen, die jahrzehntelang den Nachmittag für die Familie reservieren wollten, sind jetzt dafür verantwortlich, dass Ganztagsgymnasien zum Normalfall werden. "Die Politik wird massiv Mittel zur Verfügung stellen müssen, um den Ganztagsbetrieb auszubauen", sagt Schulforscher Rösner. Er schätzt, dass allein für den Umbau der Gymnasien - Mensen, Freizeit- und Ruheräume - deutschlandweit 6,5 Milliarden Euro investiert werden müssten.
Ansonsten könnte sich ein Trend fortsetzen, der vielen in der Union noch größere Sorge machen dürfte: Gesamtschulen, von Konservativen gerne als "Einheitsschule" verunglimpft, melden in vielen Bundesländern steigende Anmeldezahlen. Anstatt das Abitur im Turbo-Gang abzulegen, haben dort die SchülerInnen meist dreizehn Jahre Zeit.
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