Abitur 07: Ich will hier nie wieder weg
In der Türkei feiern 12.000 österreichische Maturanten Abschied von der Schule. Alles inklusive: Bier ohne Ende, Strandbar-Flirts, Tanzen bis zum Morgen.
Dominik weint bitterlich, sein Gesicht ist schmerzverzerrt. Der 19-Jährige steht inmitten von 3.000 Gleichaltrigen. Er hat sieben Tage "Summer Splash" hinter sich, laut Eigendefinition des Veranstalters "Europas größte Maturareise". Diesen Sommer feiern aufgeteilt auf drei Wochen 12.000 Ex-Schüler an der türkischen Riviera ihre Matura, wie das Abitur in Österreich heißt. "Das war die geilste Woche eures Lebens", schreit Moderator Franz in die Menge. Der Mittzwanziger will damit sagen: Dauerparty, Liebesgeschichten und Bier. Vor allem Bier. "Aber was nach der Schule kommt, ist noch so viel geiler!"
In seiner linken Hand hält der durchtrainierte Dominik einen kleinen Plastikbecher, aus dem Wodka-Orange schwappt. Es ist kurz vor ein Uhr in der Nacht, als der Angriff auf die Tränendrüsen seinen Höhepunkt erreicht. Aus den Lautsprecherboxen dröhnt die Dirty-Dancing-Schnulze "The Time of My Life", danach folgt "Time to Say Goodbye" mit Andrea Bocelli und Sarah Brightman. Weiße Luftballons steigen in den Himmel, zuvor gab es schon ein Feuerwerk. Dominik umarmt einen Schulkollegen nach dem anderen. In einer halben Stunde fährt sein Shuttlebus zum Flughafen Antalya. Dann ist es auch schon wieder vorbei mit der großen Freiheit. Das Bundesheer wartet.
Am nächsten Morgen kommt der nächste Schwung an "Nie mehr Schule"-Teenagern. Eine Woche der All-inklusive-Reise, die zwischen Festivalstimmung und Skihüttengaudi pendelt, kostet 820 Euro, zwei Wochen kommen auf 1.190 Euro. Die Abschlussreise gehört in Österreich dazu wie die schlaflose Nacht vor dem mündlichen Teil der Reifeprüfung. Von den 39.000 österreichischen Maturanten fliegt der Großteil in den Süden - meist auf Einladung der Eltern oder der Großeltern. "Das letzte Schuljahr war furchtbar anstrengend. Jetzt freue ich mich auf ein paar Tage Sonne, Meer - und Party bis zum Umfallen", sagt die 18-jährige Christiane. "Das habe ich mir verdient." Kurzum: abschalten, bevor der Leistungsdruck wieder kommt.
Das Willkommenspaket auf den Zimmern in den 5-Sterne-Bettenburgen gibt einen weiteren Vorgeschmack darauf, was in den nächsten Tagen und vor allem Nächten bevorsteht: ein Durex-Kondom Marke "Pleasuremax", wartet auf jedem Kopfkissen. Ex-Gymnasiast Patrick will standhaft bleiben. Vor zwei Monaten hat es bei ihm so richtig gefunkt, gezwungenermaßen lautet seine Devise für den Flirtmarathon mehr als 2.000 Kilometer fernab der Heimat: "Wegschauen, auch wenn es bei den Mädels hier schwerfällt." Beim Italotyp mit den schwarzen Badeshorts auf der Nachbarliege sieht die Sache ganz anders aus. "Das hier ist Penis-Business", sagt er grinsend. Seinen Namen möchte der Nachwuchs-Casanova lieber nicht in der Zeitung lesen. Die lockere Stimmung lässt auch so manch ehemalige Klosterschülerin schwach werden: "Ich will was erleben", bekennt die 19-jährige Johanna und zupft sich ihr rosarotes Bikinioberteil zurecht.
Niemand soll ungeküsst bleiben. Auch nicht jene Hormonbomber, die zum Planschen im Pool am ersten Tag noch ihre Gummipuppen mitnehmen. Auf seiner Homepage wirbt der Veranstalter mit einem ausgewogenen Verhältnis von männlichen und weiblichen Maturanten. Und selbst wer nicht zum Stich kommt, dürfte sich nicht langweilen. Den knapp 20 Sponsoren und Kooperationspartnern sei Dank, die sich die zielgruppengenaue Marketingschlacht fast eine Million Euro kosten lassen. Das Tagesprogramm im täglichen 8-seitigen Summer-Splash-Kurier liest sich denn auch wie das Who s who der Marken.
Die Baumarktkette Obi liefert Minibagger zum Wettbaggern an den Strand, von der Volksbank gibt es Gutscheine für den Ausritt mit dem Jetski und die Werbeflächen am Tennisplatz übernimmt Sony. Am späten Nachmittag schippert das dreistöckige Red-Bull-Partyschiff "Cruise Missile" die Küste entlang. Später öffnet das Open-Air-Kino von Cineplexx seine Pforten, in der Hotellobby präsentiert der ORF TV-Serien. In der von einer großen Drogeriekette eingerichteten "S-HE Style Zone" können sich die Ex-Schüler von Profis für den Abend aufbrezeln lassen. Und Nike ließ extra ein Summer- Splash-Outfit designen. Eigentlich fehlt nur noch McDonalds zum Teenagerglück.
An die 250 Mitarbeiter sorgen vor und hinter den Kulissen für einen reibungslosen Ablauf. Die meisten von ihnen arbeiten unbezahlt - dafür dürfen sie am Abend am Mainfloor auf der Bühne abtanzen, bei der Kür der Miss Wet T-Shirt Hand anlegen oder bei der Wahl zum Mister Knackarsch assistieren. Tagsüber verkaufen die Crewmember Swatch-Uhren, betreuen die Poolspiele oder sitzen ihre Zeit als Aufpasser in der 24 Stunden geöffneten Internetarea ab. Das Partyprekariat lebt bis zu drei Wochen am Stück in einer Parallelwelt, in der nicht nur die Wochentage zur Nebensache werden. Für Gesprächsstoff sorgt der ziemlich angeheiterte Personalchef, der sich auf offener Bühne im Adamskostüm präsentiert. Oder der gestohlene Laptop aus dem Büro, der bei einem türkischen Computerhändler wieder auftaucht.
Für bedeutend weniger Aufregung sorgen erstaunlicherweise die Webcams, die im ganzen Areal installiert sind. Per Mausklick können die Daheimgebliebenen sogar das Kommando über eine Kamera übernehmen - und bis in die Dekolletés zoomen. Oder dabei zusehen, wie die Maturanten ihre letzten gemeinsamen Tage mit ihren Klassenkollegen genießen. Am Strand, am Pool oder irgendwo dazwischen.
Der kleinste gemeinsame Nenner heißt Alkohol. "Wir schauen, dass wir tagsüber den Pegel von einem Promille halten - erst am Abend legen wir dann ordentlich zu", sagt ein "Splashie", wie die Maturanten von der Crew genannt werden, und wankt weiter zur Bar, wo er sich einen dunkelroten Cocktail aus dem Saftspender lässt.
In den Hotelanlagen herrscht während der Partywochen der Ausnahmezustand: Ungleich höherer Alkoholverbrauch als bei Normalbetrieb, verwüstete Zimmer und ständiger Wirbel. Ein Gast pinkelt beim Frühstück auf den Tisch, ein anderer versenkt einen Fotografen samt Kamera im Schwimmbecken. Für die Hotels rechnet es sich trotzdem, weil das Haus statt Familien mit Kindern bis unters Dach mit voll zahlenden Gästen belegt ist.
Die Initialzündung für das Spektakel kam zur Jahrtausendwende von einer Gruppe Maturanten. Für eine Projektarbeit skizzierten sie - vom damaligen Clubbingtrend inspiriert - die Partystadt unter der Sonne. Der damals 27-jährige Reisebüroinhaber Didi Tunkel erkannte seine Chance. Tunkel lieh sich eine halbe Million Euro bei seiner Hausbank, verpfändete sein Einkommen auf Lebenszeit und schickte die ersten 1.000 Schulabgänger auf die Erlebnis-Matura-Reise. Der Verkaufsclou hat sich seither nicht geändert: Ab September klappern Ex-Splashies die Schulen von Vorarlberg bis ins Burgenland ab, um die Reise zu promoten. Im Herbst 2006 war das Kontingent von 9.000 Maturanten binnen fünf Wochen ausverkauft, schleunigst buchte Tunkel einen zweiten Club. Zu groß war die Angst, dass potentielle Kunden zu den Mitbewerbern "X-Jam" und "Mission2Beach" abwandern könnten. Tunkels Firma Splashline, die sich auf Eventreisen für die partyfreudige Generation zwischen 18 und 36 Jahren spezialisiert hat, setzt alleine mit der achten Auflage des Summer Splash fast zehn Millionen Euro um.
"Wir sind am richtigen Ort, ich will hier nie wieder fort. Splash!" Der Refrain des eigens für den Summer Splash 2007 geschriebenen Songs ist fixer Bestandteil der abendlichen Freiluftdisco, die im Amphitheater steigt, wo normalerweise Folkloreabende stattfinden. Wenn nach der "Black & White Night" oder der "Wickie, Slime & Paiper"-Zeitreise in die elterliche Discovergangenheit die Lichter am Mainfloor erlöschen, geht die Flipflop-Party am Strand bis zum Sonnenaufgang weiter. Zurück bleibt der Putztrupp, der das Bechermeer beseitigen muss. Einmal pro Woche übernimmt Österreichs größter Popsender "Hitradio Ö3" die Turntables, Auftritt von Santa Claus bei tropischer Nachthitze inklusive. Zu "Last Christmas" schwelgen plötzlich alle mit roten Zipfelmützen am Kopf für ein paar Minuten in Weihnachtsstimmung. Für ein paar Sonnenstunden samt Live-Gigs kommen unter anderem Christina Stürmer oder die Hamburger Band Revolverheld in die Türkei. An ausgewählten Tagen mischen sich Ex-Skispringer Andi Goldberger und andere C-Promis unter die Maturanten - und lassen es ebenfalls ordentlich krachen.
Im nächsten Jahr möchte Obersplashie Didi Tunkel noch einen draufsetzen: Mit 5.000 Maturanten pro Woche will er in einer mehr als ein Kilometer langen Hotelanlage den Super-Summer-Splash zelebrieren, 2009 soll gar ein internationaler Topact einfliegen. Der meistgehörte Kommentar bei der Abreise wird freilich gleich bleiben: "Voll geil - aber jetzt brauche ich erst einmal Urlaub."
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