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Abgründe des Innenlebens

Unmerklich gleitend: „Es gibt kein Zurück“ von Ulf Erdmann Ziegler

Von Stephan Wackwitz

Ulf Erdmann Zieglers neuer Roman „Es gibt kein Zurück“ baut eine literarische Versuchsanordnung auf, die er bei Adalbert Stifter studiert haben könnte: Eine leicht und durchsichtig gewebte längere Sommernovelle bewegt sich langsam und hinterrücks ins Finstere hinein. Ein Berliner Essayist, beruflich damit bekannt geworden, seine zeitkritischen Interventionen im Radio einzusprechen, sieht seiner Pensionierung bei erschreckend geringfügigen Ruhestandsbezügen entgegen und beschließt, eine Autobiografie in Angriff zu nehmen. Die Praktikantin seiner Agentur berät ihn bei diesem Unternehmen telefonisch über den Abgrund der Generationen hinweg; und das zwar kritisch, aber auch erstaunlich einsichtig, vorurteilsarm und reflektiert.

Statt sich jedoch an den heimischen Schreibtisch zu setzen, kauft er sich zunächst einmal ein Motorrad, lässt Hund und Gattin zu Haus und fährt über Paris nach Südfrankreich, begleitet von Telefongesprächen mit jener Agenturpraktikantin und seinen eigenen Erinnerungen. Das Berlin der Jahrzehnte vor der Vereinigung taucht auf in seinen Reflexionen und Reminiszenzen; seine Hippiemutter und eine unstete Kindheit als Begleiter ihrer Irrfahrten; ein langer Irlandaufenthalt; erotische Episoden aus den siebziger Jahren; die Coronakrise; der Untergang des „Kulturradios“; die politische Sprachlosigkeit der deutschen zwanziger Jahre – Freunde, Atmosphären, Theoriefragmente, Illusionen und Enttäuschungen der „Jahre, die ihr kennt“. Und am französischen Mittelmeer schließlich stößt ihm und uns eine Überraschung zu, die Zieglers Held nicht überlebt: eine „unerhörte Begebenheit“– wie es sich für das Novellenhafte gehört –, aber eine, die aus dem Innenleben kommt; aus den seelischen Abgründen eines Mannes, der offenbar selber nicht gewusst hat, wie verzweifelt er ist (wir jedenfalls wussten es nicht und konnten es, wenn wir das Erzählte zugrunde legten, auch nur ahnen).

Ulf Erdmann Ziegler: „Es gibt kein Zurück“. Wallstein, Göttingen 2025, 216 Seiten, 22 Euro

All das ist spannend und mit jener an Stifter geschulten unmerklich-unheimlichen Gleitbewegung vom harmlos Heiteren zum finster Tragischen erzählt. Und auch in diesem Buch beeindruckt die tiefenscharf durchdachte und in jeder Formulierung sozusagen noch einmal auf Hochglanz polierte stilistische Virtuosität, für die (unter anderem) Ziegler bekannt geworden ist und zu Recht geschätzt wird: „Bald fand er heraus, wie man aus einem langen Satz einen Bogen schnitzt und mit einem einzigen Wort den Pfeil abschießt“; „Sie musste im Fränkischen aufgewachsen sein; das R stand heraus wie ein Knorpel“.

Von dem sogenannten „Bilanzselbstmord“ der Hauptfigur her gesehen ist das nostalgisch-spätsommerlich besonnte Road-Movie, als das Zieglers Buch scheinbar begonnen hatte, als Abschussrampe der Erzählung in Dunkel, Tod, Vergeblichkeit und Grauen schockartig erkennbar geworden.

Theoriefragmente, erotische Episoden – Jahre, die ihr kennt

Wenn an diesem fast perfekten Roman etwas problematisch zu nennen wäre, dann der sich beim Lesen zunehmend verfestigende Eindruck, dass die gewichtigen Themen, die einen Menschen hier erdrückt zu haben scheinen, eine für seine novellistische Konstruktion oft zu große spezifische Schwere haben. Sie können in ihrem Rahmen immer nur angespielt, nie aber sachgerecht durchdekliniert werden, was den Reflexionen und Erinnerungen des personalen Erzählmediums einen im problematischen Sinn „essayistischen“ Zug verleiht (der als Charakterisierung der zentralen Figur andererseits auch wieder einleuchten könnte).

Man wird das Thema dieses Buchs wahrscheinlich am treffendsten mit dem Satz zusammenfassen, dass es für einen intelligenten und problembewussten Menschen möglicherweise nie schwerer gewesen ist, alt zu werden, als im ersten Viertel unseres Jahrhunderts. Ulf Erdmann Zieglers toter Essayist heißt Aldus Wieland Mumme. Die Seltsamkeit dieser Namensgebung erklärt sich vielleicht als Anfangsbuchstaben-Verrätselung jenes „alten weißen Mannes“, von dem in diesen Jahren oft – und meist in tatsächlich schwer nachvollziehbarer Verächtlichkeit – die Rede gegangen ist.

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