Abgeordnetenrechte vorm Staatsgericht: Zur Sache, Schätzchen
Hat Bremens Bürgerschaftspräsidentin Antje Grotheer dem Abgeordneten Jan Timke zu Unrecht das Wort entzogen? Darüber verhandelte der Staatsgerichtshof.
![Ein Mann sitzt im Gerichtssaal neben einem anderen Mann Ein Mann sitzt im Gerichtssaal neben einem anderen Mann](https://taz.de/picture/7523219/14/506792984-1.jpeg)
Eine Entscheidung wird das Landesverfassungsgericht erst im März fällen, aber am ersten Verhandlungstag wurde deutlich, dass sich die Landtagspräsidentin auf recht dünnem Eis bewegte, als sie den Abgeordneten zweimal aufforderte, zur Sache zu reden, und ihm, als er bei seinem vorbereiteten Redetext blieb, beim dritten Mal das Wort entzog.
Zwei Minuten hatte Timke gesprochen, als Grotheer ihn das erste Mal unterbrach. „Noch immer werden als linksextremistisch eingestufte Strömungen, Strukturen und Zusammenschlüsse innerhalb der Partei Die Linke von den Verfassungsschutzbehörden verschiedener Bundesländer beobachtet, so in Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und auch im benachbarten Niedersachsen“, hatte Timke gesagt, woraufhin Grotheer die Glocke läutete und ihn bat, „zur Sache zu sprechen“.
Um die Sache
Daraufhin fuhr er fort, die Linkspartei in die Nähe des Linksextremismus zu rücken. Drei Minuten später unterbrach ihn Grotheer erneut. „Es geht um die Wahl des Senats, es geht um Bremer Personen, es geht um Bremer Wahlen. Es geht nicht um die Frage, wen Sie aus welchen Erfahrungen oder welchen Erkenntnissen im Bund sonst wie beurteilen.“ Weil er sich auch davon nicht beirren ließ, entzog sie ihm schließlich das Wort.
Timke ging juristisch dagegen vor und stellte, vertreten durch seinen Anwalt, vor dem Staatsgerichtshof den Antrag, die Unzulässigkeit von Grotheers Handeln festzustellen. Zuvor hatte diese es im August 2023 abgelehnt, ihn in der nächsten Bürgerschaftssitzung seinen Vortrag fortsetzen zu lassen.
Es sei ihm um die Sache gegangen, argumentierte Timke laut dem am Montag vom Gericht vorgetragenen Sachbericht. Um die Verfassungstreue der beiden zur Wahl stehenden Senatsmitglieder, die der Linkspartei angehören, in Frage stellen zu können, habe er „einen Bogen gespannt“. Die Landtagspräsidentin habe ihn daran gehindert, „den Bogen auf Vollspannung“ zu bringen und dann „abzuschießen“. Damit, so sieht es sein Anwalt, seien seine Abgeordnetenrechte verletzt worden.
Im Ton vergriffen
Der Staatsgerichtshof unter dem Vorsitz von Peter Sperlich beschäftigte sich in der Sitzung lange mit dem Unterschied zwischen Sach- und Ordnungsrufen. Ordnungsrufe ergehen in deutschen Parlamenten regelmäßig und sind ebenso regelmäßig Gegenstand von gerichtlichen Auseinandersetzungen. Häufig geht es dabei um AfD-Abgeordnete, die andere Menschen beleidigen und diffamieren.
Erst am Freitag hatte beispielsweise das Hamburger Landesverfassungsgericht einen Ordnungsruf gegen den AfD-Abgeordneten Krzysztof Walczak für rechtmäßig erklärt. Dieser hatte im Mai 2023 in einer Sitzung der Hamburger Bürgerschaft den CDU-Landeschef als „Ober-Pinocchio“ bezeichnet und später behauptet, die CDU sei „mit ihrer Migrationspolitik für den Einlass Hunderttausender Antisemiten nach Deutschland verantwortlich“.
Sachrufe, also die Erinnerung zur Sache zu sprechen, seien hingegen ausgesprochen selten, wie der Vorsitzende Richter ausführte. Im Bundestag seien diese in den letzten 20 Jahren nicht dokumentiert worden, in Bremen in mindestens den letzten zwei Legislaturperioden nicht. Dabei wog das aus sieben Personen bestehende Gericht ab, ob nun ein Sach- oder ein Ordnungsruf das mildere Mittel wäre.
Thema verfehlt
Richter Andreas Fischer-Lescano gab zu bedenken, dass ein Ordnungsruf eine Rede vollkommen verbiete, während ein Sachruf sie nur zu einem bestimmten Zeitpunkt einschränke. Der Vorsitzende Sperlich hingegen fragte, ob es nicht viel schlimmer sei, jemandem zu erklären, er habe sich nicht im Ton vergriffen, sondern das Thema verfehlt.
Fraglich schien dem Gericht auch zu sein, inwiefern es befugt sei zu beurteilen, wann jemand noch zur Sache spreche und wann nicht. Deshalb gab es immer wieder den Ball sowohl an die Anwälte als auch an Timke und Grotheer zurück: „Wann ist aus Ihrer Sicht eine rote Linie überschritten?“ Klare Antworten hatten auch diese nicht.
Jan Timke sagte, wenn er etwa vom Angeln gesprochen hätte, hätte das wohl nichts mehr mit der Sache zu tun gehabt. Allerdings werden die Reden zur Wahl des Senats traditionell zu allem Möglichen genutzt, wie eine im Gericht gezeigte Videoaufnahme der Rede der grünen Fraktionsvorsitzenden zeigte, die sieben Minuten über vergangene Erfolge und zukünftige Herausforderungen sprach, bevor sie zum ersten Mal auf den neuen Senat zu sprechen kam.
Umgang in Parlamenten hat sich verändert
Nur: Wäre ein Verfassungsgericht nicht befugt, die Sachdienlichkeit eines Redebeitrags zu bewerten, könne das in der Konsequenz dazu führen, dass diese ohne Kontrollmöglichkeit zu „Quasselbuden“ verkämen, sagte Richter Fischer-Lescarno, in denen „dadaistische Diskussionen“ dominierten.
Nach zwei Stunden Verhandlung äußerte sich die Landtagspräsidentin erstmals selbst. Ihr Beitrag ließ durchblicken, warum sie möglicherweise in ihrer zweiten Sitzung als Landtagspräsidentin so scharf durchgegriffen hatte. „Ich bin seit 2011 Mitglied der Bürgerschaft“, sagte die Juristin, „seitdem hat sich die Dynamik und der Umgang miteinander im Parlament sehr verändert“. In den vergangenen Jahren würden Sachen gesagt, die sie sich vor zehn Jahren noch nicht habe vorstellen können. „Es wird versucht, immer etwas mehr zu sagen, als zulässig ist.“
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