Abgeordnetenhaus Berlin: Vom Skandal zum Jura-Proseminar
Im Hauptausschuss finden Rechnungshof-Chefin Klingen und die wegen der Corona-Milliardenschulden kritisierten Abgeordneten ein Stück weit zusammen.
Berlin taz | Dafür, dass die eine Seite eine rechtlich wackelige Konstruktion kritisiert und die andere sich eine politische Einmischung verbeten hatte, bleibt es an diesem Mittwochmittag sehr gesittet im Abgeordnetenhaus. Der Hauptausschuss tagt zum ersten Mal nach der Sommerpause – im umgebauten Plenarsaal, in dem es nun corona-konform nur noch Einzelplätze und keine Sitzreihen mehr gibt. Es geht um die Kritik des Rechnungshofs am Parlament, das im Juni einen Nachtragshaushalt mit sechs Milliarden Schulden beschlossen hat. In einem achtseitigen Schreiben hat die Behörde einen zu langen Tilgungszeitraum moniert und eine klare Festschreibung vermisst, wo die Schulden in der Corona-Krise helfen sollen.
Statt – verbal – aufeinander einzudreschen, tauscht man juristische Einschätzungen über diesen und jenen Verfassungsartikel aus, der nicht länger oder doch die Schuldenaufnahme ermöglichen soll, ob wohl die seit diesem Jahr geltender Schuldenbremse das eigentlich verbietet. In einem Punkt kommen sich Rechnungshofchefin Karin Klingen und die rot-rot-grüne Koalition schnell näher: Was die Milliardenkredite konkret finanzieren, soll in einem zweiten Nachtragshaushalt stehen, dessen Beratung an diesem Mittwoch beginnt.
Es ist interessant zu erleben, wie Behördenchefin Klingen allein mit dem Parlament und vor allem SPD-Chefhaushälter Torsten Schneider debattiert und gegenhält. Denn bei der Nominierung für ihren Job im Mai 2018 war zu hören, in Person von Klingen übernehme eine willfährige SPD-Freundin die Kontrollbehörde für die Landesfinanzen. „SPD-“Parteisoldatin“ soll Rechnungshofpräsidentin werden“, stand damals im Tagesspiegel.
CDU unterstützt Rot-Rot-Grün
Als ob die Koalition Unterstützung gegen Klingen bräuchte, solidarisiert sich auch CDU-Haushaltsexperte Christian Goiny mit der rot-rot-grünen Ausschussmehrheit. Denn dass Berlin sich übermäßig viel Zeit lasse mit der Tilgung der Schulden – 27 Jahre und nicht bloß jene zehn, die Klingen für richtig hält, um nicht die nächste Generation zu belasten – mag der CDU-Mann nicht erkennen: „Wenn man das im bundesweiten Vergleich sieht, sind wir da kein Ausreißer.“ Laut SPD-Mann Schneider gibt sich etwa das schwarz-gelb regierte Nordrhein-Westfalen für die Rückzahlung 50 Jahre Zeit. „Man kann nicht automatisch eine wirtschaftliche erfolgreiche Phase wie seit 2012 voraussetzen“, sagte Goiny, „ich wage mal die Prognose, so schnell wird's nicht gehen.“
Am Ende scheint selbst die AfD, die im Juni wie die FDP gegen den Haushalt stimmte und die nach Klingens kritischem Bericht eine Verfassungsklage ins Auge fasste, mit im Boot: „Wir müssen neue Schulden aufnehmen, da kommen wir nicht drum herum“, sagt ihre finanzpolitische Sprecherin Kristin Brinker, „ich halte es nur für schwierig, das pi mal Daumen zu pauschalisieren.“ Brinker selbst hat am Morgen ihren Rücktritt als Vizechefin der AfD-Fraktion bekannt gegeben: Sie soll von einer Manipulation im Zusammenhang mit den Fraktionsfinanzen gewusst haben – Brinker selbst bestreitet, dass es eine Manipulation gab.
Im Ausschuss ist man sich schließlich überwiegend einig, dass in der Corona-Krise mehr als die bis jetzt beschlossenen sechs Milliarden Schulden nötig sein werden – und lobt, dass der Rechnungshof seine Beratung angeboten hat. SPD-Mann Schneider fasst das so zusammen: „Ich konstatiere: Aus einem politischen Skandal ist ein juristisches Proseminar geworden.“