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Abermals mahnt Europa DeutschlandHilfe gegen lahme Gerichte

Der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte macht seit langem Druck auf Deutschland – weil Prozesse zu lange dauern. Jetzt sollen Bürger sich endlich wehren können.

Ungerecht ist auch, was zu lange dauert, sagt Europa. Bild: misterQM / photocase.com

Zum Abschied wurde Europarichterin Renate Jaeger noch einmal deutlich. "In Deutschland gibt es noch immer kein Gesetz, das Entschädigungen bei überlanger Prozessdauer festlegt", so Jaeger in ihrem Abschiedsinterview. Es gebe "Nachbesserungsbedarf", mahnte die Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), die zum Jahreswechsel ausschied. .

Jaegers Unmut ist verständlich. Immer wieder wird Deutschland in Straßburg wegen überlanger Gerichtsverfahren verurteilt. 2006 forderte der EGMR erstmals strukturelle Abhilfe von Deutschland. Geklagt hatte damals ein Mofa-Fahrer aus Stade, der nach einem Unfall 24 Jahre lang auf ein Urteil über die Höhe des Schadenersatzes warten musste.

Im September 2010 wurde der Gerichtshof noch deutlicher. In einem sogenannten Pilotverfahren wurde Deutschland eine Frist gesetzt: Binnen eines Jahres müsse endlich ein innerstaatliches Rechtsmittel eingeführt werden, mit dem Bürger eine Beschleunigung überlanger Prozesse erreichen können. Geklagt hatte diesmal der Inhaber einer Sicherheitsfirma, der erfolglos um einen Waffenschein prozessierte und elf Jahre auf ein Urteil warten musste.

Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) ist der Druck aus Straßburg bewusst. Im August hat die Bundesregierung deshalb einen Gesetzentwurf "über den Rechtschutz bei überlangen Gerichtsverfahren" beschlossen. Künftig soll ein Betroffener beim zuständigen Gericht zunächst eine Verzögerungsrüge erheben können, wenn er das Gefühl hat, sein Verfahren kommt nicht voran. Frühestens nach weiteren sechs Monaten kann er eine Entschädigungsklage einreichen. Bei unangemessen langen Prozesse soll es dann in der Regel 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung geben. Bei Strafverfahren wirkt die überlange Verfahrensdauer (wie bisher) strafmildernd.

Mit dieser Entschädigungslösung wird zwar ein lahmer Prozess nicht direkt beschleunigt. Allerdings, so die Hoffnung der Ministerin, soll bereits die Verzögerungsrüge als Warnschuss dienen. Über die Rüge selbst wird kein Beschluss gefasst - damit ein ohnehin überlastetes Gericht nicht noch mehr Arbeit bekommt. Die Entschädigungsklage muss dann ein anderes Gericht aus der gleichen Gerichtsbarkeit behandeln. So muss etwa das Landessozialgericht nach einem überlangen Prozess bei einem Sozialgericht entscheiden. Wann ein Verfahren als "unangemessen lang" gilt, soll nach Einzelfall entschieden werden.

Richterbund und Anwaltverein sind mit dem Gesetzentwurf zufrieden, fordern aber mehr Personal für die Justiz. Dabei hat Deutschland schon heute eine ungewöhnlich hohe Richterdichte. Überlange Gerichtsverfahren sind auch die Ausnahme. Wer zum Beispiel in einer Mietsache beim Amtsgericht klagte, bekam 2009 im Bundesschnitt schon nach 4,5 Monaten ein Urteil, ein Strafverfahren dauerte beim Amtsgericht im Schnitt 4 Monate. Allerdings wurde Deutschland auch schon 54-mal in Straßburg wegen einzelner exzessiv langer Prozesse verurteilt.

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9 Kommentare

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  • S
    Sachsensumpf

    Aha ,nicht nur in Sachsen gibt es Sumpf .

  • R
    Rechthaber

    Na klar geht es auch schlimmer als in Deutschland. Doch wer sich mal anschaut, wie bei steigenden Verfahrenszahlen immer mehr Richterstellen abgebaut werden und wie immer mehr Arbeiten vom nichtrichterlichen Dienst (hat feste Arbeitszeiten) auf die Richter (keine Arbeitszeiten, daher auch keine Überstunden) verschoben werden, muss sich nicht wundern, wenn es länger dauert. Dazu noch teilweise ziemlich weltfremde Geschäftsverteilungspläne, die einigen wenigen Richtern eine 30- bis 35-Stunden-Woche bescheren, aber etliche zu Arbeitszeiten von 60 und mehr Stunden zwingen, fertig ist das Problem.

     

    Und über schlechte Gesetze und konsequent rechtswidrig handelnde Behörden (Stichwort Hartz IV und Belastung der Sozialgerichte) lasse ich mich gar nicht mehr aus.

  • G
    gustawo

    @Russlan

    Die Verweigerung von Arbeit ist sicherlich kein krimmineler Delict ,und dies mit Weltanschaulichen Gründen zu rechtvertigen ,ein Deutsches Grundrecht .

    Ein Kaffee weniger schadet auch nich ,Russlan .

  • R
    Ruslan

    @Erwin

    Für mich ist der Post nur ein weiteres Plädoyer dafür, dass in der BRD endlich die Religion zur Privatsache erklärt werden muss. Feiertage gehören somit abgeschafft und wer gerade mal wieder irgendeinen "höchsten" Feiertag seines Glaubens zur wichtigsten Priorität in seinem Leben erklärt, soll sich eben dafür Urlaub nehmen. Das würde auch die Ernsthaftigkeit seiner/ihrer Bekenntnisse unter Beweis stellen. Hinzu käme ordnungspolitisch der Effekt, dass sich niemand unter dem Vorwand einer "Religion" aus der Verantwortung für Delikte z.B gegen die körperliche Unversehrtheit herausstehlen könnte. Ein Segen für viele Frauen in unserem Europa.

  • W
    Widerstandslage

    Was für ein dummes Geschwätz schon wieder von dieser Frau Jäger. Unmittelbar vor Antritt ihres Amtes als Richterin am EuGHMR hat sie der taz noch in die Feder diktiert, der EuGHMR müsse Eigenheiten deutsch - nationaler Justiz wurde schon viel

    und [url=""http://www.youtube.com/watch?v=CHCEDv6XCO8"" target="_blank">geschrieben, ich werde das hier nur bedingt wiederholen. Mit seinen Vertreterinnen am EuGHMR als Letztinterpretinnen von Menschenrechten begibt Deutschland sich allerdings vom Regen in die Traufe. Frau Jägers Nachfolgerin Nußberger meint nämlich, der [url=""http://www.vaticanhistory.de/wordpress/?p=1688"" target="_blank">"Westen kann von Osteuropa lernen". Dafür, dass er / sie sich an denkbar sensibler Stelle Letztinterpretinnen von solcher Art und Güte leistet, sollte der deutsche Steuerzahler sich mit Entschädigungen eigentlich dumm und dämlich zahlen müssen. Das und nur das wäre aktive, effektive und exekutive Menschenrechtspflege.
  • E
    EuroTanic

    Wenn "Deutschland" Strafe zahlen muss zahlt doch eh wieder der Steuerzahler, also der Kläger selber. So einen Schmarren. Die persönlich Haftung muss her.

  • E
    erwin

    Brüssel sollte sich mit der nachlässigen Verfassungstreue Deutscher Gerichte sowie Behörden befassen . Gravierender ist es doch ,das Deutsche Gerichte sich nichteinmal an das Grundgesetz halten ,wenn Du z.B. aus Weltanschaulichen Gründen keine Arbeit verichten kannst weil dein Gottesdienst den Gesamten Tag bzw. dein gesamttes Leben ausfüllt . "Meines wissens zufolge finden Gottesdienste nur am Sonntag statt" Soetwas bekommst Du dan zu hören von einem Staatsanwalt und noch etwas mehr von deinen zukünftigen Nachbarn sowie von der Betreungsbehörde .

  • D
    Doerfler

    Der einfachste Weg, Ihre Gesundheit zu erreichen mit der Großmutter Arzneimittel Rezept.

  • E
    Erwin

    Brüssel sollte sich mit der nachlässigen Verfassungstreue Deutscher Gerichte sowie Behörden befassen . Gravierender ist es doch ,das Deutsche Gerichte sich nichteinmal an das Grundgesetz halten ,wenn Du z.B. aus Weltanschaulichen Gründen keine Arbeit verichten kannst weil dein Gottesdienst den Gesamten Tag bzw. dein gesamttes Leben ausfüllt . "Meines wissens zufolge finden Gottesdienste nur am Sonntag statt" Soetwas bekommst Du dan zu hören von einem Staatsanwalt und noch etwas mehr von deinen zukünftigen Nachbarn sowie von der Betreungsbehörde .