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Aber eine unsichtbare Grenze bleibt bestehen

■ Am „Tag der Deutschen Einheit“ unterwegs an den „Mauerlöchern“ / Am Lohmühlenplatz reicht der Mut nur bis zur Mitte

Neukölln. Es gibt weder Kuchen, noch Kaffee und auch an Tische und Stühle hat niemand gedacht. Die Anwohner auf der Neuköllner Seite der abgerissenen Mauer am Lohmühlenplatz gucken nicht aus ihren Fenstern, und auf den Balkons in der Treptower Lohmühlenstraße sieht man anstelle von Neugierigen nur nasse Wäsche zum Trocknen. Kein Interesse an diesem Sonntag für die Nachbarn, die bis vor kurzem Welten entfernt waren und jetzt 50 Meter nahe sind. Auch kein Interesse für das Völkchen, daß unten vor der Haustür spazieren geht.

Auch die Grenzpolizisten sind an den Spaziergängern nicht interessiert. Sie fahren nur selten in ihrem Trabi-Jeep vorbei. Und dann so eilig, daß sie gar keine Zeit für Ausweiskontrollen hätten. Aber obwohl sie nicht mehr den Grenzverkehr kontrollieren, verspüren die Vorbeiflanierenden kein Bedürfnis, die abgeschaffte Grenze zu überschreiten. Grenzübertreter von West nach Ost bleiben die Ausnahme. Die an der Mauer wohnenden Ostberliner scheinen noch nicht einmal den kurzen Gang zum Mauerstreifen zu wagen.

Am Lohmühlenplatz halten ununterbrochen Autos, aus ihren schützenden Westblech gaffen die Insassen hinaus auf das fremde Loch und auf die am Rand abgestellten Mauerteile. Die meisten machen sich jedoch nicht die Mühe, auszusteigen. So wie jene Familie aus dem westdeutschen Wolfsburg, der es offenbar schon zu aufwendig ist, den Motor ihres VW-Golfs auszuschalten. Sie fahren dann auch nach kurzem Stop wieder weiter.

Auf der anderen Seite, in der Lohmühlenstraße, kommen nicht so häufig motorisierte Gaffer. Ein roter Skoda hält. In dem aufgemotzten Altwagen (Nebelleuchten, drei Antennen, zweifarbige Lackierung, „Castrol„-Aufkleber) zündet sich ein junger Ostberliner seine Club-Zigarette an, steigt aus und geht knapp bis zur Mitte des ehemaligen Todesstreifens. Dort postiert er sich, schaut hinüber in den Westen, blickt unauffällig den vielen Spaziergängern nach, die den Grenzstreifen von Kreuzberg nach Rudow ablaufen und verharrt. Als es an der Abrißbaustelle kurzfristig voller wird, trollt er sich und geht zurück zu seinem Skoda. An sein Auto gelehnt, beobachtet er aus sicherer Entfernung noch eine Weile die Szenerie. Nach einer weiteren Viertelstunde fährt er weg. Niemand hatte mit ihm ein Wort gesprochen.

Einer der wenigen, der mit fremden Leuten das Gespräch sucht, ist Walter Neubauer. Der wohnt in der Lohmühlenstraße 22 direkt am Mauerdurchbruch. Mit seinem schmuddeligen dunkelblauen Trainingsanzug läuft der 68jährige schlacksig auf dem Platz hin und her und spielt auf seiner Mundharmonika. Allerdings immer nur drei Takte - für den vierten fehlt ihm die Geduld. Kaum einer hört ihm zu.

Ein Pärchen kommt mit einer Honda angerauscht. Die Frau steigt ab und sucht im Sand einen Weg zwischen aufgehäuften Pflastersteinen und kaputten Mauerteilen. Mit ihrem roten Integralhelm auf dem Kopf sieht sie aus wie eine Astronatin auf einem fremden Planeten.

Dirk Wildt

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