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„Ab 95 Kilo ist es egal“

Wenn Dicke es satt haben, wegen ihres Gewichts gehänselt zu werden, gehen sie in die Dickendisco, wo nur auf die Fettpolster guckt, wer drauf steht  ■ Von Barbara Bollwahn

Es gibt nur einen Ort, wo Mascha niemals hingehen würde: in die Sauna. „Da kann ich mich nicht vorteilhaft kleiden“, sagt die 32jährige. Was Mascha in der Disco, auf der Arbeit oder selbst im Schwimmbad kaschieren kann, wäre in der Sauna den Blicken der anderen schutzlos ausgeliefert: ihr Übergewicht. Wieviel sie wiegt, verrät Mascha nicht. „Das ist mein Geheimnis“, sagt sie und lacht geheimnisvoll. Nur soviel sagt sie: „Ab 95 Kilo ist es egal.“

Wie viele Kilo Mascha unter ihren leger geschnittenen Gewändern verbirgt, ist schwer zu schätzen. Und eigentlich egal. Eigentlich. Nicht ohne Grund unterhält die Frau, die trotz ihrer etwa zwei Zentner attraktiv ist, zu drei Männern rein platonische Beziehungen. Diese Männer finden Maschas lustige, offene und selbstbewußte Art toll, doch nicht ihr Übergewicht. Mascha würde nur dann wieder mit Diäten und Sport anfangen, wenn „ein Mann es zuerst so mit mir probieren würde“. Mascha ist optimistisch. „Männer sehen gern schlanke Frauen“, sagt sie, „aber gehen gern mit Dicken nach Hause.“ Sie ist überzeugt, daß es auch für sie „einen Deckel gibt“.

Die Wahrscheinlichkeit, diesen zu finden, müßte in einer Dickendisco größer sein, dachte sie sich und besuchte Deutschlands erste „Disco für Dicke“, die seit einem Jahr regelmäßig in Berlin stattfindet. Am vergangenen Mittwoch war das Neuköllner Hotel „Estrel“ angesagt. Etwas enttäuscht war Mascha über das große Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen. Auf etwa fünfzig vollschlanke und dicke Frauen kam nur eine Handvoll Männer – ohne Bierbäuche und Fettpolster.

Was schlanke Männer an molligen Frauen finden? Sie seien humorvoller, man könne offener mit ihnen reden, sagen die schlanken männlichen Discobesucher übereinstimmend. Erst an dritter Stelle kommt das Argument, daß mollig auch irgendwie „kuschlig“ sei. Männer wie Frauen finden, daß nicht die Kilozahl, sondern allein die Art die Attraktivität ausmache. „Dicke Frauen strahlen ganz anders“, sagt ein 23jähriger Bürokaufmann, der 55 Kilo auf die Waage bringt und auf Frauen ab Konfektionsgröße 48 steht.

Brigitte Hinz, die die Idee einer Dickendisco im letzten Jahr aus Amerika mitbrachte und seitdem zum Tanzen unter Ihresgleichen lädt, erklärt das Fehlen von dicken Männern so: „Männer sind nicht dick. Die verweisen stolz darauf, daß das alles Samenstränge sind.“ Die 52jährige findet es nicht weiter schlimm, daß sich dicke Männer nur wenig angesprochen fühlen. Es gehe nicht vorrangig darum, als Partnerbörse zu fungieren, sondern daß Dicke sich so annehmen, wie sie sind. „Die Kopfdicken nehmen sich nicht an“, sagt Brigitte Hinz, die sich mit ihren 95 Kilo vor Jahren arrangiert hat.

Sie, der es wahrlich nicht an Selbstbewußtsein fehlt, will weniger selbstbewußten Dicken helfen, mehr Zutrauen zu sich selbst zu finden. Um Ratschläge ist Brigitte Hinz nicht verlegen. Statt zu Diäten rät sie ganz selbstbewußt: „Kommt zu uns. Wir sind dick, das ist nun mal so.“ Doch trotz aller Abgrenzung von den Dünnen scheint man ihnen doch irgendwie nachzueifern. Am 29. September gibt es eine Miß-Molly-Wahl.

Ihre frühere Beschäftigung als Propagandistin („Ich habe alles außer Lebensmitteln verkauft.“) kommt Brigitte Hinz bei ihrem jetzigen „Full-time-Job“ zugute. Neben dem Organisieren der Discos und einem monatlichen „Talktreff“, verbringt sie viel Zeit am Telefon, um deprimierte Dicke zum Verlassen der schützenden eigenen vier Wände zu überreden. Nicht ohne Stolz verweist sie darauf, daß sie es geschafft hat, ein 19jähriges Mädchen, das einhundert Kilo wiegt und seit drei Jahren in keiner Disco war, ins „Estrel“ zu lotsen. Die meisten Dicken, die zur Disco kommen, haben nichts mehr mit Diäten und Hungerkuren am Hut. „Wenn ein Mann mich nicht akzeptiert, wie ich bin“, sagt eine 33jährige Verkäuferin, „soll er gehen.“ Um Dicke kennenzulernen, könne man auch in eine „Dünnendisco“ gehen. Selbst in der Dickendisco seien nicht alle gleich. Auch hier werde „hinter dem Rücken geredet“, hat sie festgestellt. „Akzeptieren heißt nicht, daß es egal ist, wie du rumläufst.“

Infos bei Brigitte Hinz, Tel.: 603 32 00. Karten Miß-Molly-Wahl (50 Mark) bei „Estrel“ und Hinz

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