ARD-Doku „Braune Flecken“: Die Nazis von nebenan
Neonazis, die eine Kleinstadt tyrannisieren – das gibt es nicht nur im Osten. Die ARD-Doku „Braune Flecken“ zeigt das am Beispiel der nordrhein-westfälischen Provinz.
Im Eintrag der Internetenzyklopädie Wikipedia klingt die 20.000-Einwohner-Kleinstadt Radevormwald eigentlich ganz gemütlich. Man erfährt dort, dass sie eine der ältesten Städte im Bergischen Land ist und 1970 den dritten Platz beim Fernsehwettstreit „Spiel ohne Grenzen“ belegte. Außerdem sei dort der Fernseh-Pfarrer Jürgen Fliege geboren.
Ein für viele Menschen vor Ort immer bedrückenderes Problem aber wird in dem Lexikon-Eintrag ausgespart: Die so junge wie aggressive Neonaziszene in Radevormwald, die sich den harmlos klingenden Namen „Freundeskreis Rade“ gegeben hat.
Ihr Treiben ist für die Einwohner der Stadt kaum mehr zu übersehen, wie die WDR-Reportage „Braune Flecken“ schildert, die heute in der ARD ausgestrahlt wird. Überall im Ort hängen Aufkleber der Neonazis. Darauf sticht ein Mensch einen anderen mit einer Mistgabel ab, daneben steht der Slogan: „Schluss mit Multikulti-Wahn, Volkstod, Werteverfall, Pressehetze, Antideutsche Normalität“.
Auch die Wände und Straßen in der Stadt sind voller Hakenkreuze und Sprüche wie „Deutschland erwache“. Und wenn die Geschwister-Scholl-Hauptschule einen Aktionstag gegen Rechtsextremismus veranstaltet, prangt dort die Schmiererei am Eingang: „Der Sieg ist unser“.
Jagd auf Linke und Ausländer zum Führergeburtstag
Doch die jungen Neonazis im nordrhein-westfälischen Radevormwald belassen es nicht bei Sprüchen. Zu Hitlers Geburtstag am 20. April machen sie nach einem Fest für den Führer Jagd auf linke Jugendliche, bewerfen sie mit Steinen und versuchen sie bei der Flucht aus dem Auto zu zerren. Ein anderes Mal bewerfen sie „Salems Shop“ mit Flaschen. Als dessen Betreiber mit dem für die Neonazis zu fremd klingenden Namen aus dem Laden stürmt, um sich zu wehren, schlagen sie auf den Mann und seinen Sohn ein – mit Eisenstangen.
Eng verbandelt ist der „Freundeskreis Rade“ mit der selbsternannten Bürgerbewegung „Pro NRW“, die mit zwei Männern im Rat der Stadt sitzt. Unbedarfte halten die in ganz Nordrhein-Westfalen aktive Partei immer noch für vielleicht populistische, aber noch demokratische Islamkritiker und nicht für das, was sie ist: eine rechtsextreme Hasstruppe mit Verbindungen in die militante Neonaziszene. Auch hier trägt die Reportage von Wolfgang Minder zur Aufklärung bei.
„Nachts traut sich bei uns keiner mehr auf die Straße“
„Braune Flecken“, dieser TV-Film über die Neonazi-Szene der nordrhein-westfälischen Kleinstadt, ist ein eindrucksvolles Stück Fernsehen, das zeigt, wie nicht nur im Osten, sondern auch in der westdeutschen Provinz Rechtsextreme eine ganze Gegend tyrannisieren können, während die Bürger sich von Polizei und Verfassungsschutz alleingelassen fühlen.
„Nachts traut sich bei uns keiner mehr auf die Straße“, klagt eine Anwohnerin bei einer Bürgerversammlung in Radevormwald. Der Moderator der Veranstaltung hört das freilich nicht ganz so gerne, zumal doch das Fernsehen mitfilmt. Man dürfe jetzt auch nicht alles plattreden, findet er: „An der Wupper ist doch was los, hier kann man einigermaßen leben.“
Über die Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) haben alle Medien groß berichtet. Doch eine so spektakuläre Mordserie deutscher Neonazis wie die der Zwickauer Zelle wird es vermutlich so schnell nicht wieder geben. Braunen Alltagsterror dagegen schon. In Radevormwald und anderswo.
Wolfgang Minder: „Braune Flecken“, ARD, 23:30 Uhr (45 min)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland