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ARD-Beitrag über Dersim-MassakerProteste gegen Aufarbeitung

Die ARD thematisiert die Verantwortung Atatürks für das Dersim-Massaker in den 1930ern. Türkeistämmige protestieren nun deshalb gegen die ARD.

Gefangengenommene Dersimer, bewacht von türkischen Soldaten (Archivbild von 1938) Foto: Dersim Zaza Platformu/Wikimedia

Metin Yılmaz kämpft mit der Stimme gegen eine Polizeisirene an. „Wir sind hier, weil wir zu Mustafa Kemal Atatürk und zu den Werten der Republik stehen“, ruft der Berliner Journalist und Sprecher der nationalistischen Berliner İyi-Partei der Menge zu. Vor dem ARD-Hauptstadtstudio mit seiner blauen Leuchtschrift stehen an diesem verregneten Abend Menschen mit rot-weißen türkischen Fahnen.

Rund 40 Anhänger des Republikgründers haben vergangenen Freitag in Berlin gegen einen sechsminütigen TV-Beitrag der NDR/ARD-Kultursendung „Titel, Thesen, Temperamente“ (ttt) protestiert, der Anfang Dezember ausgestrahlt wurde. Der Titel: „Das vergessene Massaker – wie Kemal Atatürk Aleviten ermorden ließ“. Die Sendung thematisiert die Massaker an den ostanatolischen Dersimern in den Jahren 1937 und 1938. Offiziellen türkischen Angaben zufolge wurden damals 13.806 Menschen getötet, andere Schätzungen gehen von drei- bis viermal so vielen Opfern aus.

Die Türkei leugnet die „tragischen Ereignisse“ zwar nicht, wie die Massaker von Offiziellen häufig bezeichnet werden. 2011 entschuldigte sich Recep Tayyip Erdoğan, damals noch Ministerpräsident, sogar offiziell für die Massaker. Oppositionelle finden diese Entschuldigung aber nicht ehrlich. Sie sei aus politischem Kalkül erfolgt, sagen sie.

Im Gegensatz zur offiziellen türkischen Erzählung sprechen Kritiker von einem Völkermord – auch in dem Beitrag der ARD ist davon die Rede. Der Konflikt um die Deutungshoheit über die Massaker ist in Berlin nicht neu. Seit Ende 2015 wird im Kreuzberger Bezirksparlament über ein Mahnmal für die Opfer gestritten. Nationalgesinnte Türkeistämmige stemmen sich gegen das Mahnmal, dessen Errichtung Ende März beschlossen wurde.

Erwartbarer Widerspruch

Die ARD-Sendung thematisiert auch die Verantwortung des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk als Hauptdrahtzieher der Massaker in Dersim. Das trifft einen empfindlichen Nerv bei vielen türkeistämmigen Bürgern. Bisher vermieden es Medien eher, den ersten Staatschef der Türkei in Verbindung mit den Dersim-Massakern zu bringen.

„Er verwandelte das rückständige Osmanische Reich in eine westlich orientierte Republik“, sagt „ttt“-Moderator Max Moor zu Beginn des Beitrags. „Für die meisten Türken ist er daher bis heute nichts weniger als eine Lichtgestalt.“ Bis heute werde verdrängt, so Moor weiter, „dass er zur Durchsetzung seiner Ziele keine Skrupel kannte und über Leichen ging“. Die Autoren des Beitrags berichten, wie Atatürk für die Massaker Giftgas bei Deutschland bestellt habe.

Der Beitrag blieb nicht unwidersprochen. Auch in München und Köln kam es zu Kundgebungen vor Sendeanstalten der ARD. Türkische Medien reagierten prompt auf die Proteste vom vergangenen Wochenende. Türkische Politiker verurteilten die ARD. Im Beitrag belegen die Autoren ihre Behauptung mit einem Dokument vom August 1937 aus dem türkischen Staatsarchiv: eine Bestellung von 20 Tonnen Giftgas aus Deutschland, unterzeichnet von Atatürk.

Die Teilnehmer der Berliner Kundgebung stellen die Echtheit des Dokuments infrage. „Wir protestieren gegen die historisch unhaltbare Verleumdung Atatürks“, ruft Yılmaz den Anwesenden zu und lädt sie zu einer Schweigeminute für Atatürk, „seine Waffengefährten und für all unsere bisherigen Märtyrer“ ein. Wenige Minuten später stimmt die Menge die türkische Nationalhymne an.

Die Genozid-Frage

„Er wollte die Türkei zu einem modernen Nationalstaat formen und arbeitete dafür auch mit dem Hitler-Regime zusammen“, heißt es außerdem im „ttt“-Beitrag. Deshalb sprach AKP-Sprecher Ömer Çelik am Freitag von einer „hässlichen Sendung“. Vergleiche mit Hitler seien inakzeptabel. „Die hier getätigten Beleidigungen richten sich direkt gegen unser Volk und unseren Staat“, so Çelik. Er kündigte Konsequenzen an: „Unsere zuständigen Ministerämter werden in dieser Sache aktiv werden.“ Die Macher von „ttt“ äußerten sich deshalb auf ihrer Website zur aufgebrachten Kritik. „Wir haben Kemal Atatürk nicht mit Adolf Hitler verglichen oder gleichgesetzt“, heißt es dort unter anderem.

Zur Berliner Kundgebung gegen den Beitrag ist auch Demet Kılıç gekommen. Sie ist Alevitin, gehört aber trotzdem zu den Kritikern der ARD. Sie kritisiert, dass der Sender von einem Völkermord spricht: „Warum hat Atatürk nur in Dersim Aleviten ermorden lassen, warum nicht auch in anderen Städten?“ Die Frage weist auf eine Unklarheit in der Deutung der Dersim-Frage hin: Kann bei diesem auf die Region Dersim begrenzten Massenmord von Genozid die Rede sein?

Die Produzenten Thorsten Mack und Karaman Yavuz sprechen von einem Genozid und begründen dies damit, dass Atatürk „einen Staat, einen Führer, eine Sprache und eine Religion – den sunnitischen Islam“ angestrebt habe. „Die Dersimer sprachen nicht Türkisch und waren nicht sunnitisch“, heißt es im Beitrag. Das erklärt aber nicht, warum in den Jahren 1937/38 Aleviten in anderen Landesteilen verschont blieben.

Die Definition des Massakers

Auch Genozidforscher sind sich in dieser Frage uneins. Der Historiker Wolfgang Benz schließt einen Genozid im Falle von Dersim aus. Benz sagt: „Ein Völkermord hat eine universale Intention. Das heißt, er richtet sich gegen eine ethnisch, religiös oder rassistisch definierte Bevölkerungsgruppe in ihrer Gesamtheit.“ Bei den Massakern von Dersim handele es sich dagegen „um eine regional begrenzte Aktion“.

Andere gehen sehr wohl von einem Völkermord aus, weil der Staat in Dersim über mehrere Jahre systematisch und planmäßig vorgegangen sei. „Maßstab für einen Völkermord sind weder die Zahl der Ermordeten noch die Größe der Region, in der er stattfindet“, sagt Genozidforscher Yektan Türkyılmaz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Forum Transregionale Studien. Maßgebend sei, wie die Täter ihre Opfer sähen. So betrachtet war Dersim für die Kemalisten eine Projektionsfläche, die Türkyılmaz wie folgt beschreibt: „Eine über das Kızılbaş-Alevitentum das Kurdentum verbreitende, rückständige und wilde Region. Ein überkommenes Übel aus dem Osmanischen Reich, das es gilt, um der Zivilisation willen von seinen Wurzeln her auszurotten.“

Während manche also noch um die Definition der historischen Gewalttat ringen, möchten andere am besten gar nichts von dem Massaker wissen: Metin Yılmaz, Demet Kılıç und ihre Weggefährten wollen am kommenden Samstag wieder gegen das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen protestieren.

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