9/11-Kommentar: Das 9/11-Syndrom

Der 11. September hat eine tief gehende gesellschaftliche Pathologie mit sich gebracht: Die Rückkehr der religiösen Identitäten in den öffentlichen Diskurs.

So paradox das klingen mag: Am 11. September 2001 war die Welt noch in Ordnung, die Anschläge von Ussama Bin Ladens Todessekte hatten die Welt noch nicht vollends aus dem Lot gebracht. Noch einige Zeit danach konnte man sich darauf einigen, ein neuer Totalitarismus, der "Islamismus", habe die freie Welt ins Visier genommen. Also: nicht Kampf der Kulturen. Sondern Kampf der Freiheit gegen die Kräfte der Unfreiheit.

Sieben Jahre später haben wir es mit dem alltäglichen Kleinkrieg der Kulturen zu tun - mit allerlei Überspanntheiten, aber auch mit realen Mordversuchen wie der jüngsten Messerattacke auf einen jüdischen Rabbiner in Frankfurt. Ein Einzelfall? Einzelfälle kommen hier nicht aus dem Nichts.

Man kann sich die Sache noch immer, ja, fast möchte man sagen: schönreden. Dass dies eben allein die Pathologie radikaler Muslime ist. Aber längst hat das Reden von den "Kulturen", den "Identitäten" und von der "Rückkehr der Religionen" eine viel tiefer gehende gesellschaftliche Pathologie mit sich gebracht. All die postmodernen Ideen von den Patchworkidentitäten und den Bastelbiografien, sie sind fast vergessen. Menschen, wie komplex ihr Leben auch sein mag, werden wieder zuvörderst als Produkte ihres religiösen Herkommens betrachtet. Sie werden anhand kultureller Bruchlinien sortiert und sortieren sich auch selbst so.

Muslime stehen unter Generalverdacht, die christlichen Kirchen sehen ihre Chance in der Abgrenzung. Im selben Atemzug behaupten sie, sogar die Aufklärung sei Folge des "jüdisch-christlichen Erbes". Das ist nicht nur abstrus, weil fast alles an zivilisatorischem Fortschritt den Kirchen erst abgerungen werden musste, es hat auch einen eifernden Subtext: "Die Anderen" passen eben nicht "zu uns." Ein Echo des Eifers, wie er den großen Monotheismen seit je eigen war, trotz säkularer Tarnung. Noch im Versuch, die Leidenschaften zu zähmen, hofft man auf die Religion: Kein Round Table zur Integrationspolitik ohne Imam, Bischof, Rabbi.

Das ist das 9/11-Syndrom: die Rückkehr der religiösen Identitäten in den öffentlichen Diskurs. Gott schütze uns vor der Renaissance der Religionen.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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