9. Berlin-Biennale: (K)ein Sturz ins Bodenlose
Rückkehr ins Proseminar über virtuelle Realität: Das New Yorker Künstlerkollektiv DIS hat die 9. Berlin-Biennale gestaltet.
Der Jakob-Mierscheid-Steg ist eine hundert Meter lange, schmale Brücke, die das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus im Berliner Regierungsviertel mit dem Paul-Löbe-Haus verbindet. In luftiger Höhe über dem Spreebogen können die Abgeordneten zwischen den zwei Parlamentsgebäuden wechseln. Man wundert sich, dass das New Yorker Künstlerkollektiv DIS die filigrane Brücke nicht zu einem der Ausstellungsorte der 9. Berlin-Biennale gemacht hat, die am Freitag ihre Tore öffnete.
Nicht nur, weil der kleine Steg direkt über einem Fährboot auf der Spree, einem der Ausstellungsorte, schwebt. Sondern er belegt auch ihre kritische Analyse, wie sehr die Gegenwart inzwischen „dem Beharren auf Fiktionen entsprungen“ ist. Denn das real existierende Bauwerk ist nach einem fiktiven Abgeordneten benannt, der freilich schon 1979 in Bonn erfunden wurde, ein Scherz von SPD-Genossen.
Die Berlin Biennale gibt es seit 1998 und sie findet vom 4. Juni bis 18. September 2016 statt. Die Ausstellung internationaler zeitgenössischer Kunst wird dieses Jahr von Lauren Boyle, Solomon Chase, Marco Roso und David Toro vom Kollektiv DIS kuratiert.
Weswegen die DIS-Erkenntnis nicht wirklich neu ist. Die Macht der Fiktionen beginnt nicht erst mit dem Netz – Dreh- und Angelpunkt der Post-Internet-Art, die Lauren Boyle, Solomon Chase, Marco Roso und David Toro in den Mittelpunkt ihrer Schau gestellt haben. So ergeht es einem oft auf dieser Biennale. Das DIS-Quartett schüttet ein Füllhorn cooler Thesen aus, wie der „Post-Gegenwart“, der „Paradoxie des Virtuellen als Realen“ und des „Universellen, das in eine Vielzahl von Unterschieden aufgesplittert“ ist. Ganz so „breaking“ sind sie dann doch nicht. Und ihre Spiegelung in der Kunst fällt eher mau aus.
Sturz ins Bodenlose
Das plötzliche Gefühl des Sturzes ins Bodenlose beispielsweise, wenn man auf der Dachterrasse der Akademie der Künste am Pariser Platz das Headset aufsetzt und in die 3-D-Animation des kanadischen Künstlers Jon Rafman eintaucht, erfährt man weniger als heilsame „Kollision zwischen Fiktion und Wirklichkeit“. Eher fühlt man sich in ein Proseminar über Virtuelle Realität im Kunstgeschichtsstudium der 90er Jahre zurückversetzt.
Für DIS sind Kunst und ihr kommerzielles Gegenteil heute nicht mehr zu trennen. Am überzeugendsten fällt ihr Versuch, „die Betrachter über die kommerzielle Oberfläche so anzusprechen, dass sie sich veranlasst fühlen, sich kritisch mit der dahinter verborgenen Problematik auseinanderzusetzen“, – so erklärten sie es in einem Interview – in den „Lichtkästen“ im Eingang der Akademie der Künste aus.
Hybride aus Werbung und Surrealismus
13 Künstler von Will Benedict bis Stewart Uoo präsentieren seltsame Hybride aus Werbung und Surrealismus: ein Alien, ein brennender Hut. Umringt ist der furiose Biennale-Auftakt, der das Labyrinth des Akademiegebäudes kongenial bespielt, von Schaufensterpuppen mit verdrehten Gliedmaßen, die ebenso gut aus einem Luxus- wie einem Fetischshop stammen könnten.
Zu einer wirklich genuinen Ästhetik haben sich die neuen, populären, digital erzeugten und die alten, analogen Bildwelten aber noch nicht fusioniert. Es sei denn, man betrachtet Nicolás Fernández’ Ölbild „Everything needs it’s own absence“ – das einzige in der ganzen Biennale – als solche. Das Vorbild für die nackte Frau im Kopfstand, an deren Brust ein am Boden sitzender Säugling trinkt, stammt von dem viral verbreiteten Foto einer Yogalehrerin.
„Homeland“, das rasante neue Video des türkischen Politkünstlers Halil Altındere, bei dem der Berliner Rapper Mohammad Abu Hajar den Fluchtweg von Syrien bis zum Kreuzberger Oranienplatz rappt, wirkt in dieser Mischkulisse aus Kommerz und Kunst wie ein Fremdkörper.
Der DIS-Versuch, E und U mittels „horizontal approach“ zu versöhnen, Kunst, Musik und Mode friedlich „koexistieren“ zu lassen, treibt bisweilen seltsame Blüten. Etwa in der „Comfort zone“ des amerikanischen Designers und Architekten Shawn Maximo in einem Zwischengeschoss der Kunstwerke in der Auguststraße.
Unisex-Toilette
Denn die Abhänglounge, die Maximo mit Sitzkissen, Wandbildschirm und Fototapete von hyperrealer Welten ausgestattet hat, ist eine Unisex-Toilette. Auf einer schmalen Rinne können Männer wie Frauen ihre Notdurft verrichten. Und sich dabei wohl fühlen. Womit der globale Toilettenstreit ein für alle Mal entschärft sein dürfte. Der Name des Sponsors der Armaturen für diesen „Hybrid zwischen Innen- und Außenraum“ ist gut zu lesen.
Was hätte Jakob Mierscheid zu dieser Spitzenleistung der Kreativindustrie gesagt?
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