84,6 quadratmeter: Der Grenzstreit
In den 50er-Jahren hatte Chruschtschow die Idee, die Kasachische SSR möge die zweite sowjetische Kornkammer werden. Also mussten die Kasachen ihre Wüsten und Steppen in fruchtbares Ackerland verwandeln – über 18 Millionen Hektar allein zwischen 1954 und 1958. „Neulandgewinnung“ hieß das Wahnsinnsprojekt.
Am Majakowskiring 7 in Berlin-Pankow geht es irgendwie auch um Neulandgewinung. Seit zwei Jahren schwelt hier ein Konflikt um ein geteiltes Grundstück und um einen Zaun. Beteiligt sind die Bremer Bauplanungsfirma Allplan und die Botschaft der Republik Kasachstan. Die ist ein großes Land – 2,725 Millionen Quadratkilometer groß. Doch auf einer Länge von 45 Metern ist es 188 Zentimeter zu breit. Denn als das Grundstück Majakowskiring 7 getrennt wurde, hatte man an der vermeintlichen Grenze einen 2 Meter hohen Metallzaun errichtet, nur nachgemessen hatte man vorher nicht. Deshalb ist die eine Hälfte, auf der der kasachische Botschafter, seine Exzellenz Wjatscheslaw H. Gizzator residiert, 84,6 Quadratmeter zu groß.
Und die andere Hälfte, auf der die Bremer Bauplanungsfirma Allplan ein „Stadtpalais“ mit hochwertigen Eigentumswohnungen baut, um ebenjene 84,6 Quadratmeter zu klein. Dies hatte sich die Firma von einem amtlichen Vermesser des Pankower Bezirksamtes bestätigen lassen. Doch einigen konnte man sich nicht. Im Gegenteil: Im Dezember war die Geduld des Architekten Claus Grünig am Ende, und er begann, den Zaun eigenmächtig zu versetzen, bis die von der Botschaft herbeigerufene Polizei Schlimmeres verhinderte. Um Verstimmungen zwischen Berlin und Astana zu vermeiden, bot sich kurzerhand das Auswärtige Amt als Vermittler an und bat die Beteiligten an einen Tisch. „Wir verfolgen dabei keinerlei eigene Ziele, sondern treten lediglich als Vermittler in Erscheinung“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes. „Solche Fälle sind für uns nichts Ungewöhnliches.“ In der vergangenen Woche traf man sich dann erneut, hat „den Sachverhalt erörtert und den Verlauf der Grenze besprochen“.
Am Ende ging es natürlich aus wie das Hornberger Schießen. Wenn das kasachische Außenministerium die Erlaubnis erteilen würde und die Allplan bezahle, dürfe der Zaun versetzt werden, sagte die Botschaft, und Allplan sagte okay.
Heute rücken nun drei Handwerker den Zaun um genau jene vermaledeiten 188 Zentimeter zurück an die katasteramtliche kasachische Grenze. Und Kasachstan bleibt trotzdem nach Russland der flächengrößte Sowjet-Nachfolgestaat. JAN ROSENKRANZ
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