piwik no script img

79. Theaterfestival AvignonBis zum Mars

Intendant Tiago Rodrigues zeigt mit der Stückeauswahl fürs 79. Festival d’Avignon berührende Geschichten über Klimakrise und Generationen­konflikte.

Sezene aus dem Sci-Fi-Drama „La Distance“ von Tiago Rodrigues Foto: Christophe Reynaud de Lage/Festival d'Avignon

Man kann auch in den Himmel schauen. In diesen Nachthimmel, der sich weit aufspannt über der Carrière de Boulbon nahe Avignon, dem berühmten Theater im Steinbruch. Man kann dort den Großen Wagen entdecken, der gerade oberhalb der Felswand steht, an der Abbruchkante dieser spektakulären Außenspielstätte des ­Festival d’Avignon.

Man kann mit zurückgelehntem Kopf und etwas Glück eine Sternschnuppe entdecken und über das Universum nachdenken und da­rüber, ob man wirklich bald auf dem Mars wird wohnen können. Man auch kann zur Bühne blicken. Klar. Dort tanzen ja gerade Anne Teresa De Keersmaeker und Solal Mariotte ihr gemeinsam entwickeltes Stück „BREL“.

Ein heller Lichtkegel und ein Standmikrofon markieren die Position des 1978 verstorbenen belgischen Chansonniers, während gut zwei Dutzend seiner Lieder nicht nur zu hören, sondern auch als riesige Buchstabenprojektionen auf dem Fels zu sehen sind (Lichtdesign: Minna Tiikkainen).

Wild grimassieren und gestikulieren

Nach einem ersten Chanson – „Le Diable“ („Ça va“) – und einer kurzen, heiligen Bühnenleere nähert sich die belgische Tänzerin und Choreografin langsam dem Lichtkegel, tritt ans Mikro und scheut zurück. Später am Abend wird sie zu Jacques Brel – ähnlich wie er selbst – wild grimassieren und gestikulieren, während Mariotte lässige HipHop-Moves macht. Anschließend werden sie sich zum Walzer umarmen und ein paar absichtslos wirkende Choreografien performen, um sie gleich wieder abzubrechen.

Vermutlich will dieses Andeuten und Abbrechen nicht mehr sein als eine Annäherung an diese große Legende, tatsächlich aber wirkt das lose Gefüge bald albern, bald beliebig, bald seltsam introvertiert. Ist man Brel-Fan, hält man das aus, wünscht sich ihn am liebsten jetzt sofort und live auf diese Bühne zurück oder schaut einfach wieder in den Sternenhimmel. Womöglich sogar in Richtung Mars.

Dorthin wiederum ist Amina ausgewandert, eine der beiden Figuren in dem Science-Fiction-Drama „La Distance“. Verfasst und auf die Bühne gebracht, hat es Tiago Rodrigues, der seit 2023 das südfranzösische Festival als künstlerischer Leiter verantwortet. Sein Stück spielt im Jahr 2077 und erzählt von einer nahezu unbewohnbar gewordenen Erde und von einer Marsmission, die den Roten Planeten mit ersten Freiwilligen besiedeln will.

Sprechnachrichten im Weltraum

Allein mittels Sprachnachrichten können sich der auf der Erde lebende Helikopter­vater (Adama Diop) und die längst erwachsene, in einem Versuchslabor auf dem Mars wohnende Tochter (Alison Dechamps) verständigen. Mit diesem geschickten Stückaufbau, mit dem Austarieren von Nähe und Distanz, von Monolog und Dialog gelingt Rodrigues eine spannende Parabel nicht nur über die Klima­krise und Generationenkonflikte, sondern auch über Liebe, Leben und Verlust.

Eindringlich erspielen sich Dechamps und Diop ihre Figuren, geben deren Wünschen, Sehnsüchten und Konflikten bald mehr und mehr emotionalen Raum. Natürlich dreht sich die Drehscheibenbühne – zwei abgestorbene Bäume gibt es vom Ausstatter Fernando ­Ribeiro obendrauf – gegen Ende immer schneller, wird das Licht bald apokalyptisch dunkel und kommt jede Menge unfreundlicher Nebel auf. Doch diese konventionellen und recht vorhersehbaren Bühnenmittel sind verzeihlich vor der Folie dieses klug komponierten und aktuelle Diskurse verhandelnden Stücks.

Dass Rodrigues selbst, nachdem er verkündet hatte, in der diesjährigen Ausgabe Arabisch als „Gastsprache(n)“ zuzulassen, in den Fokus öffentlicher Diskurse geraten würde, wurde ihm von zahlreichen Kol­leg*in­nen prophezeit. Schließlich bedeutet diese Neuerung auch – mal abseits von allem Entzücken über die Kunst- und Sprachvielfalt –, sich mit autoritären Staaten und/oder Krieg führenden Ländern zu beschäftigen.

Über die Welt mit Kunst sprechen

„Wir versuchen nicht, die Komplexität der aktuellen Krisen zu verleugnen“, konstatiert ­Rodrigues dazu in einem Interview mit dem französischen Musikmagazin Les ­Inrockuptibles und ergänzt: „Wir werden uns ihnen stellen, aber wir bleiben dem Festival treu, indem wir über die Welt durch die Kunst sprechen.“

In Zahlen heißt das: Zehn von insgesamt 42 Produktionen sind während des Festivals in der „Gastsprache Arabisch“ zu sehen – und zwar aus sieben arabischen Ländern. Dazu gehören etwa „Voix de femmes“, eine musikalische Hommage an die 1975 verstorbene ägyptische Sängerin Umm Kulthum; „Nour“, eine Koproduktion mit dem Institut du monde arabe in Paris, das als „vielstimmige Feier der arabischen Sprache(n)“, angekündigt wird.

Oder Mohamed ­Toukabris „Every – Body – Knows -What -­ Tomorrow -Brings – And – We -All- Know – What – Happened – Yesterday“. Der tunesisch-belgische Tänzer und Choreograf Toukabri verhandelt in seinem einstündigen Solo, das auch während der diesjährigen Ruhrtriennale in Deutschland zu sehen sein wird, Fragen von Identität und Herkunft, variiert suchende Bewegungen mit fordernden Urban-Dance- und HipHop-Scores.

Flirrende Sounds

Zu flirrenden Sounds spricht eine weibliche Stimme aus dem Off mal Englisch, oft Arabisch, was Toukabri mit so sympathischen, aber auch so eindeutigen Textprojektionen wie „There will be no translation“ und „Do you want me to be understandable or do you want me to be me?“ kommentiert.

Man ahnt, dass der junge Tänzer eine Zerreißprobe zwischen Anpassung und Verstellung auf die Bühne bringen wollte, doch auf der Bühne bleibt dies viel zu vage. Gäbe es allerdings einen Preis für den außergewöhnlichsten Stücktitel, würde ihn Toukabri allemal gewinnen.

Einen deutlich vertrauteren Titel und auch einen sehr vertrauten Schaubühnen-Ton findet man in Thomas Ostermeiers Inszenierung von Ibsens „Wildente“. Schnoddrig spielt das Ensemble eine „Ey-sach-mal-ach-nö“-Fassung, die Maja Zade und Ostermeier erstellt haben. Stefan Stern hat diesen lässigen Duktus am tiefsten inhaliert, zum Schaudern grandios ist seine Verkörperung des Hjalmar Ekdal.

Schlaff, aber raumgreifend

Schlaff und dennoch raumgreifend macht er aus ihm – trotz vorhandener Gitarre – einen labilen Luftgitarristen. Auch an Magdalena Lermer als ernsthafter und zutiefst verletzter Hedvig bleibt man dran, erlebt man durch diese genaue Schauspielerin doch eine Figur, die bis zum Ende des Stücks ihr Geheimnis bewahrt.

Auf ein paar sehr verquatschte Passagen wiederum, etwa seitens des Wahrheits­coaches ­Gregers Werle (in herrlich gewaltfreiem Sprechduktus: Marcel Kohler), hätte Ostermeier gern verzichten können, besser noch auf die klassistischen Darstellungen seiner Hartz-IV-Ekdals inklusive pink gefärbter Haarsträhne, Jogginghosen und Margarine statt Butter.

Das Festivalpublikum verzeiht es ihm, mehr noch, es bejubelt die zu bejubelnden Spie­le­r*in­nen und auch diese doch etwas vordergründig geratene, um Gegenwartsbezug bemühte Inszenierung.

Wo bleibt der Shuttle-Service?

Dass man womöglich die innovativsten, streitbarsten und schrägsten Performances verpasst hat – warum eigentlich gab es bei den so gut organisierten Festivaltransfers keinen ­Shuttle zu Milo Raus Community-­Stadtrandprojekt „La Lettre“? –, gehört zu den Begleiterscheinungen eines jeden und erst recht dieses mit etwa 17 Mil­lio­nen Euro Budget ausgestatteten Theaterfestivals.

Genauso wie manche kuriose Nebenperformance, etwa wenn das aufmerksame Festivalpersonal die Kassenschlange zu einer minutenlangen Polonaise animiert (um die Wartenden auf die Schattenseite des Platzes zu manövrieren) oder wenn sich zwei Kartäusermönche in Kutte und mit baumelnden Rosenkränzen vollkommen weltlich durchs Festivalprogramm diskutieren oder drei ältere, zarte Theaterbesucher beherzt einen der öffentlichen Wasserspender in gefährliche Schieflage bringen, um noch den allerletzten Tropfen kostbaren Nasses aus ihm herauszuholen.

Dann führt das Leben selbst Regie, werden die Zu­schaue­r*in­nen zu Figuren, erzählt das Festival d’Avignon sein ganz eigenes Episodendrama – zwischen Himmel und Hitze, zwischen Carrière de Boulbon, Croissants und Chansons.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!