60 bsr-millionen: Hauen wir‘s doch auf den Kopf
Wenn Deutschland derzeit ein Jammertal ist, was viele behaupten, dann ist Berlin endlich einmal die angemessene Hauptstadt. Die Larmoyanz ist groß, der Defätismus weit verbreitet. Und das leider mit einigem Recht. „Schaut auf diese Stadt!“ – den Satz Ernst Reuters aus Nachkriegszeiten bringt der Hauptstädter derzeit nicht über die Lippen angesichts maroder öffentlicher Gebäude, leer stehender Schwimmbäder und fehlender Mülleimer.
Kommentarvon JÖRN KABISCH
Rot-Rot hatte sich das anders gedacht. Vor einem Jahr, als die Koalitionsgespräche begannen, sollte der Spardruck als Katalysator für große Strukturentscheidungen dienen, und das Ganze sollte auch noch sozial gerecht sein. Den Mentalitätswechsel beschwor der Regierende Bürgermeister. Heute rechnet sein Finanzsenator Berlin fast täglich vor, wie viele Schwimmhallen noch geschlossen werden müssten, um aus den roten Zahlen zu kommen. Es müssen immer mehr sein als da sind. So nimmt man keinen Bürger mit.
Dabei bietet sich zur Zeit eine einmalige Chance, die Berliner mal wieder für ihre Stadt zu begeistern. Nämlich in Form der 60 Millionen Euro, die die landeseigene BSR wegen falscher Abrechnungen zu viel hat. Die Idee, dieses Geld beisammenzuhalten‘und die Bürger darüber entscheiden zu lassen, hat Charme. Und fragt man Berliner auf der Straße, können sie sich nicht nur gut vorstellen, wie man diese Mittel für die Stadt vernünftig verwendet. Sie haben auch nichts dagegen. Die Rückzahlung gestaltet sich ohnehin als äußerst kompliziert, und am Ende wird beim Einzelnen ein Betrag ankommen, den er kaum in seinem Geldbeutel spüren wird. Das wissen viele.
In der brasilianischen Stadt Porto Alegre ist das Umgehen mit dem wenigen Geld in den Achtzigern nur gelungen, als die Stadtväter die paar Kröten, die sie noch hatten, in die Hände der Einwohner legten und diese entscheiden ließen, wofür es ausgegeben wird. Die neue Verantwortung führte auch zu einem neuen Verantwortungsgefühl für das Gemeinwesen – und dem Mentalitätswechsel, den sich Klaus Wowereit einst wünschte.
Mehr Bürgerbeteiligung, das hat sich auch sein Senat auf die Fahne geschrieben. Die Einführung von Bürger- und Volksbegehren etwa. Doch der Wille hat das Papier des Koalitionsvertrags bislang nicht verlassen. Und die kleinen Ansätze à la Porto Alegre, der Modellversuch etwa, den die Böll-Stiftung nächstes Jahr unter Laborbedingungen starten will, sind viel zu zaghaft, als dass sie schnell Früchte tragen könnte. Warum also nicht? Hauen wir die BSR-Millionen für die Stadt auf den Kopf, wozu, ist erst mal egal, wenn es vernünftig ist, umso besser. Nur einen Tag raus aus dem Jammertal.
bericht und umfrage SEITE 23
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