vorlauf: 50 Sekunden Misstrauen
„Das Rote Quadrat: Drei Kugeln und ein totes Kind“ (Montag, 21.45 Uhr, ARD)
30. September 2000. Der zweite Tag der al-Aksa-Intifada. Jüdisches Neujahrsfest Rosh Hashana. An einer Straßenkreuzung vor der israelischen Siedlung Netzarim im Gazastreifen. Hunderte Palästinenser belagern den israelischen Militärposten seit dem frühen Morgen. Am Nachmittag kommt es zu einer wilden Schießerei. Der 12-jährige Mohammed al-Dura, der mit seinem Vater hinter einem Betonfass Schutz gesucht hat, wird vor der laufenden Kamera des palästinensischen Kameramanns von France 2 erschossen. Das Bild geht um die Welt. Ein Beweis für die Brutalität der israelischen Besatzungsarmee? Ein kaltblütiger Mord?
Ein Jahr lang hat Esther Schapira den Fall recherchiert und mit fast allen Zeugen gesprochen. Nun präsentiert sie ihre Ergebnisse in der Sendereihe „Das rote Quadrat“. Die im vergangenen Jahr mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Reihe des Hessischen Rundfunks wird jetzt im Ersten fortgesetzt. Der Anspruch: Die Wahrheit hinter den Bildern zu zeigen, dem ersten Eindruck zu misstrauen.
Fazit der Recherche: Israelische Soldaten können den 12-Jährigen nicht erschossen haben. Beleg: eine Untersuchung der israelischen Armee, die vom Oberkommandierenden im Gazastreifen, General Jom Tov Samia, selbst geleitet wurde. Für die Palästinenser ist dagegen klar: Es waren die Israelis. Eine Obduktion des Jungen wird deshalb nicht vorgenommen, nur eine Art Leichenbeschau. Der Kameramann bleibt bei seiner Aussage, es waren israelische Soldaten, die geschossen haben. Doch von den sechs Minuten, die er nach Jerusalem übermittelt, werden nur 50 Sekunden gezeigt. Was ist auf den Bildern zu sehen, die France 2 unter Verschluss hält? Es hat keine Manipulation gegeben, sagt der Büroleiter von France 2.
Esther Schapira legt nahe, dass man den Untersuchungsergebnissen der israelischen Armee trauen kann. Und dem palästinensischen Propagandarummel um Mohammed al-Dura misstrauen soll. Überprüfen lassen sich die Untersuchungsergebnisse der Armee nicht. Was dem Zuschauer bleibt, ist Misstrauen. Aber das ist vielleicht auch gut so. GEORG BALTISSEN
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