50 Kilometer nördlich: Berge voller Geschichte
Die Sierra de Guadarrama ist Madrids wichtigstes Naherholungs- und Wandergebiet. Schriftsteller und Philosophen wurden von ihr inspiriert, Bergsteiger erklommen ihre Höhen, Skiasse übten hier
"Bist es du, Guadarrama, alter Freund
die grau und weiße Sierra
die Sierra madrilenischer Nachmittage
die ich blau gemalt sah?"
Den Blick, den der bekannteste spanische Dichter, Antonio Machado, beschreibt, bietet sich jedem, der die Strapazen auf sich nimmt, um einen der Berge der Sierra Guadamarra zu besteigen. Diese kleine, aber dennoch bis zu 2.430 Meter hohe Bergkette liegt 50 Kilometer nördlich der Hauptstadt Madrid und ist deren Naherholungsgebiet. Die Sonne flirrt über den von hellem Grau in dunkles Blau übergehenden Gipfeln. Es riecht nach Thymian. Das Zirpen der Grillen ist allgegenwärtig. Ein angenehmer Wind macht die stechende Sonne des Südens erträglicher.
Ob die Dichter der Generation von 1898 oder der von 1927 - die Sierra war für alle ein Pflichtprogramm. Hier holten sich neben Antonio Machado, Autoren wie Azorín, Pío Baroja oder der Philosoph Miguel de Unamuno ihre Eindrücke. Sie wurden nicht müde, den schmalen Gebirgszug mit seinen runden Gipfeln und den zackigen Felslandschaften zu beschreiben. Der Blick nach Nord und nach Süd über weiten Ebenen des alten und des neuen Kastilien erschien ihnen als die Perfektion an sich. Auch ausländische Schriftsteller wie Ernest Hemingway oder dessen Freund John Dos Pasos sollten den Reizen dieser im Winter verschneiten, im Frühjahr sattgrünen und im Sommer und Herbst gelb verbrannten Gebirgslandschaft erliegen. "Noch nie habe ich solche Abenddämmerungen gesehen, sie bewegen die Seele … Die herrlichsten Landschaften tauchen überall auf", schwärmt der Amerikaner Dos Pasos in einem Brief. Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset ging gar noch weiter: "Ich bezweifle, dass in naher Zukunft die Landschaft der Alpen unsere Vorliebe erobert. Ich erwarte hingegen fest eine neue Welle der Begeisterung für die hellen und gut geformten Sierras", schrieb er und verfiel damit ganz der Sünde vieler spanischer Denker: das Eigene völlig zu überhöhen.
Im Falle der Sierra de Guadarrama kommt dies nicht von ungefähr. Die Berge bei Madrid verkörperten für die Intellektuellen der 1898-Generation und für ihre Erben das Neue, den Aufbruch inmitten einer nationalen Sinnkrise. Das spanische Imperium in Übersee verfiel. 1898 machte sich mit Kuba die letzte Kolonie unabhängig. Die 98er-Generation suchte eine Antwort auf die Frage, was denn Spanien fortan sein sollte. Sie folgten den Schritten des Pädagoge Francisco Giner de los Ríos, der die Berge bei Madrid entdeckte. Er organisierte in den 1880-Jahren lange Wanderungen durch die Täler und Wälder und über die Höhen der Sierra. Der Kontakt mit der Natur sollte helfen, neue, freiere und vor allem von Religion und Politik unabhängigere Menschen zu bilden. Individuen, die in der Lage sein sollten, Spanien zu erneuern. So proklamierte es die von Giner und Freunden gegründete Institution der Freien Erziehung.
Überall entstanden kleine Gruppen von Wanderern und Bergsteigern. Beeinflusst von den großen Entdeckern der Alpen und dem arktischen Norden zogen sie mit Rucksack und bald auch mit Steigeisen und Skiern ausgerüstet in die Sierra, um dort ihre eigenen Abenteuer zu leben. Es war der Grundstein für den spanischen Alpenverein. Unter jenen Pionieren war so mancher Zugezogene aus Norwegen,Deutschland oder der Schweiz. Namen wie "Camino Schmid" (Schmid-Weg) oder die "Loma del Noruego" (Bergrücken des Norwegers) zeugen bis heute davon.
Als Giner de los Ríos 1915 starb, war es abermals Antonio Machado, der dem Pädagogen und seiner Sierra ein Denkmal in Versen setzte:
Oh, ja, Freunde, bringt
seinen Körper in die Berge
in die blauen Erhebungen
des breiten Guadarrama. (…)
Dort, wo der Lehrer eines Tages
von einem neuen Aufblühen Spaniens träumte."
Es sollte ein unerfüllter Traum bleiben. Denn nur wenige Jahre später wurde auch Guadarrama Zeuge des größten Dramas der spanischen Geschichte, des Bürgerkrieges (1936-39). Hoch oben in den Bergen bezogen die Verteidiger der Republik Stellung. Im Sommer waren es reguläre Verbände, im Winter Freiwillige der Berg- und Skisportvereine. Nur sie waren in der Lage, sich gegen Schnee und Feind gleichermaßen zur Wehr zu setzen. Der Krieg ging verloren. Die Diktatur kam für fast vier Jahrzehnte über Spanien.
Und wieder musste Guadarrama als Symbol herhalten. General Francisco Franco ließ am Fuße der Sierra eine Kathedrale in den Fels treiben, in der er nach seinem Tod 1975 beigesetzt wurde. Bereits in den 50er-Jahren wurden die sterblichen Überreste von mehr als 30.000 Bürgerkriegsopfern beider Seiten in das Valle de los Caídos - Tal der Gefallenen - gebracht. Ein 150 Meter hohes Kreuz aus Granit überragt das Szenario. Die Stille der Gräber als Versöhnungsakt des Regimes. Doch auch die Gegner der Diktatur sollten die Sierra für sich entdecken. Junge Kommunisten, Anarchisten und Gewerkschafter nutzten lange Wanderungen durch die Abgeschiedenheit, um ungestört debattieren zu können.
Längst sind sie vorbei, die Zeiten, in denen es nur wenige in die die Berge zog. Passstraßen und eine Schmalspurbahn führen bis auf 1.860 Meter. Zehntausende von Menschen aus dem Großraum Madrid, mit sechs Millionen die am dichtesten besiedelte Region Spaniens, gelangen so Wochenende für Wochenende in die Sierra. Im Sommer laden Wiesen, Wälder und Gipfel zum Wandern. Im Winter zieht es die Madrilenen in zwei Skigebiete. Es sind kleine Stationen, verglichen mit denen in den Pyrenäen oder der Sierra Nevada. Und dennoch haben sie große Geschichte geschrieben. Auf den Hängen des Puerto de Navacerrada trainierten einst die Geschwister und Francisco und Blanca Fernández Ochoa. Ersterer gewann 1972 bei den Olympischen Spielen in Sapporo eine Goldmedaille im Slalom. Seine Schwester holte 20 Jahre später in Albertville Bronze in derselben Disziplin.
Doch trotz des Trubels gibt es sie noch, Antonio Machados "Kiefernwälder, wo der Wind pfeift, und die Hänge voller Thymian, wo die goldenen Schmetterlinge tanzen". Wer sie finden will, braucht nur ein Paar Wanderschuhe, genügend Wasser, ein Bocadillo und etwas Ausdauer, um die Sierra de Guadarrama abseits der Straßen und der Bahnlinie zu entdecken.
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