50 Jahre TürkInnen in Deutschland: "Ich staunte, dass sie kamen"
Nach dem Mauerbau 1961 fehlten bei Siemens in Berlin 4.300 Arbeiter. Joachim Putzmann warb für den Konzern Gastarbeiter an. Eine Erfolgsgeschichte.
taz: Herr Putzmann, Sie müssen sich noch gut an den 14. August 1961, den Tag nach dem Mauerbau, erinnern.
Joachim Putzmann: Ja - das war ein schwerer Tag, persönlich wie beruflich.
Zunächst zum Privaten: Sie sind gebürtiger Berliner.
Ja. Für mich war die Teilung ein Albtraum. Wir hatten viele Freunde in unserem Ruderverein, die aus Brandenburg kamen. Und plötzlich sollten wir nun Feinde sein.
Und beruflich?
Ich war 30 Jahre alt und Vertriebskaufmann im Siemens-Werk für Messtechnik und Disponent für die Fertigung, also Verbindungsmann zwischen den Vertrieben und den Werken. Am 14. August fehlten uns bei Siemens in Berlin 4.300 Arbeitskräfte, beinahe zehn Prozent unserer Beschäftigten.
kam 1931 in Berlin-Spandau zur Welt. Von 1951 bis 1994 arbeitete er bei Siemens, zunächst als Lehrling, nach seinem Studium als Manager. Von 1985 bis 1994 war er Chef von Siemens Berlin. Im Jahr 1995 ging der heute 80-Jährige in den Ruhestand, studierte Theologie und Geschichte. Er ist Gründer und Vorsitzender des Berliner Dombauvereins und aktiver Ruderer. Er lebt heute in Erlangen.
Wer fehlte denn?
Das waren Leute aus Ostberlin und aus der Mark Brandenburg. Siemens hatte ja dort schon vor dem Krieg Siedlungen gebaut für seine Beschäftigten, in Falkenhöhe und in Weststaaken. Das wurde dann plötzlich als Teil der DDR abgetrennt, die konnten nicht mehr zur Arbeit kommen. Und viele haben in Ostberlin gewohnt und in Westberlin gearbeitet. Die waren plötzlich weg.
Wohin das alles führt, hat niemand geahnt. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei, das am 1. September 1961 in Kraft getreten ist, hat die Republik grundlegend verändert. Die Türken kamen, viele blieben. Und heute? Sind sie Deutschland, genau wie der Rest. Betrachtet man diese Entwicklung einmal ganz unaufgeregt, kann man zu dem Schluss kommen: Die Einwanderung aus der Türkei ist eine Erfolgsgeschichte.
Natürlich gibt es Probleme. Wie sollte sich eine so tiefgreifende Veränderung auch ohne vollziehen? Aber verengen wir den Blick einmal nicht auf sie, wie es die Sarrazins dieser Welt so gerne tun. Dann sehen wir: Das Zusammenleben klappt vielerorts erstaunlich gut. Registrieren wir also endlich: Vieles wird besser. Die Anzahl der türkischstämmigen Abiturienten und der binationalen Ehen steigt, die Mittelschicht wächst, selbst die Anzahl der Einbürgerungennimmt wieder zu. Türkischstämmige Abgeordnete sitzen in vielen Parlamenten, sie werden Grünen-Chef und niedersächsische Sozialministerin.
Fatih Akin steht für den deutschen Film, Feridun Zaimoglu für die deutsche Literatur, Mesut Özil für den deutschen Fußball. Sie alle sind ein Gewinn. Und sie zeigen: Es kann klappen mit dem Aufstieg - und dem Mitmischen. Wir setzen auf ein Happy End. (Sabine am Orde, stellvertretende Chefredakteurin)
Wie hat Siemens reagiert?
Wir haben Produktgebiete aufgegeben, die mit dem Kerngeschäft nichts zu tun hatten. Dazu gehörte die Radioproduktion und Geräte, die nicht mit dem Anlagenbau, mit der Elektrizitätserzeugung oder mit Industrieprozessen zusammenhingen. Das konnten wir an kleinere Firmen abgeben. Dann ging es um die Frage: Wie füllen wir die frei gewordenen Arbeitsplätze wieder auf? Es war August, im September war bei uns Geschäftsjahresschluss - da gab es Druck, unseren Umsatz schaffen zu müssen. Deshalb bin ich am 20. August 1961 mit dem Personalchef im Auto losgefahren ins damals noch existierende Jugoslawien.
Warum auf den Balkan?
Jugoslawien hatte sich damals bereits aus dem Ostblock gelöst. Und wir hatten dort eine Firma, mit der wir Montagen machten, Kraftwerke und Industrieanlagen. Da sind wir hin und haben gesagt: Bitte bitte, könnt ihr uns dreißig Monteure zur Verfügung stellen, damit wir unsere Aufträge erfüllen können?
Konnten die denn einfach auf Leute verzichten?
Einfach war das nicht: Wir mussten zwei Wochen lang verhandeln. Dann hat es geklappt. Es brachte denen ja Devisen.
Warum haben Sie nicht Arbeitskräfte aus der Bundesrepublik geholt?
Die Firma konnte nicht einfach einem Werk in Westdeutschland Arbeitskräfte wegnehmen. Dann hätten die ihre Produktion nicht fertig gekriegt. Und es gab ja damals kaum Arbeitslosigkeit. Zudem gab es bei vielen auch Angst, nach Berlin zu gehen.
Wovor hatten die denn Angst?
Vor dem Eingesperrtsein hier und der ständigen Bedrohung Westberlins.
Die Bundesrepublik hatte damals bereits Anwerbeverträge mit anderen Ländern geschlossen.
Ja, aber die galten für Berlin zunächst nicht. Der Senat ist denen nicht sofort beigetreten.
Warum denn nicht?
Durch den Bau der Mauer waren ja auch Tausende Westberliner daran gehindert worden, nach Ostberlin zur Arbeit zu fahren - mein Vater gehörte dazu. Die sollten zunächst auf dem Westberliner Arbeitsmarkt untergebracht werden. Und es gab die Wohnungsnot: Es war ja erst in den Fünfzigerjahren mit dem sozialen Wohnungsbau angefangen worden. Die Leute lebten teilweise noch in halben Ruinen. Neue Leute hätte man kaum unterbringen können. Erst im Januar 1963 hat der Senat eingesehen, dass es so nicht weitergehen kann. Er hat dann die Anwerbung unter Auflagen freigegeben. Wir hatten bei Siemens aber schon Ende 1961 400 ausländische Arbeitskräfte.
Auf welcher rechtlichen Grundlage denn, wenn Berlin den Anwerbeverträgen noch gar nicht zugestimmt hatte? Die brauchten ja Arbeitsgenehmigungen.
Ja, das war schwierig. Wir hatten in diesen Ländern unsere eigenen Vertretungen. Die haben sich bemüht, dort Leute zu finden. Dann haben wir Verträge gemacht, die uns das Land Berlin genehmigt hat, immer nur befristet für ein Jahr. Ende 1962 gab es schon etwa 5.000 ausländische Arbeitskräfte in der Stadt - nicht nur bei Siemens.
Haben Sie damals geglaubt, dass eine Rotation stattfinden würde? Dass die Leute nach zwei, drei Jahren aus Deutschland wieder weggehen?
Nach den entsetzlichen Jahren der Nazidiktatur war ich der Meinung, Ausländer würden hier nicht auf Dauer leben wollen. Ich habe sogar gestaunt, dass sie überhaupt kamen und uns ja letztlich geholfen haben - nach all dem Unheil, für das wir Deutschen verantwortlich waren.
Mit der offiziellen Möglichkeit zur Anwerbung stiegen die Zahlen dann jedoch an, oder?
Berlin musste weiter um Arbeitskräfte werben. Es war nicht so, dass die alle unbedingt herkommen wollten. Da gab es Angst vor der Fremde, auch Angst vor Berlin. Die Italiener und Spanier gingen lieber nach Westdeutschland. Die spanische Regierung hatte gesagt: Um Gottes Willen nicht nach Berlin, das liegt ja mitten im Roten Meer. Der Senat hat damals doppelstöckige Omnibusse in die Türkei geschickt, um Arbeitskräfte anzuwerben.
Wie hat Siemens um seine Arbeitskräfte geworben?
Zum Beispiel mit speziellen Postkarten, die die ausländischen Arbeitnehmer als Grüße in die Heimat schicken konnten. Die Portokosten übernahm der Betrieb. Auf einer war eine orthodoxe Kirche in Berlin, auf der anderen die Moschee in Wilmersdorf, die es schon seit den Dreißigerjahren gab. Damit sollte denen zu Hause gezeigt werden: Habt keine Angst, kommt her! Ihr seid hier willkommen.
Und wie kamen die Betriebe mit den neuen KollegInnen klar?
Überwiegend gut, doch es gab auch Reibungspunkte. Etwa, weil wir den ausländischen Arbeitskräften den vollen Lohn zahlten, obwohl sie anfangs oft den Akkord nicht schafften. Das knirschte natürlich ein bisschen. Aber wir wollten die Leute ja halten. Wir haben uns auch um Wohnraum gekümmert. In Siemensstadt wurde das Verwaltungsgebäude des Elektromotorenwerks zu einem Wohnheim umgebaut. Auch Arbeitnehmer aus Westdeutschland musste man bei der Wohnraumbeschaffung behilflich sein. Das war oft Grund für ein Spannungsverhältnis zu den Einheimischen: Die da, um die kümmert ihr euch, und wir hier interessieren euch nicht, hieß es oft.
Also Neid?
Ja, das ist ja auch normal.
Wie ging es denn weiter, als wirklich viele GastarbeiterInnen, auch türkische, kamen?
Wir haben sogleich angefangen, soziale Betreuung anzubieten, haben uns um die Kinder gekümmert, Berufsausbildungen angeboten. Wir haben uns bemüht, sie den deutschen Arbeitskräften gleichzustellen. Und das ist auch gelungen. Schon Ende der Siebzigerjahre war der größte Teil der Mitarbeiter in den Werkstätten des Hausgerätewerks ausländischer Herkunft. Da war dann auch ein Betriebsrat Türke.
Haben Sie zu Beginn der Anwerbung damit gerechnet, wie die Einwanderung Berlin verändern würde?
Nein, das war damals überhaupt noch nicht abzusehen.
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