■ Roman Herzog will das Warschauer Ghetto besuchen: 43 oder 44, das ist hier die Frage
Roman Herzog hat dem frisch gelifteten Stern ein Interview gewährt, das der „selbstbewußten Bürgergesellschaft“ (Claus Leggewie) einige Gelegenheit zu Erziehungsbemühungen gibt. Gemeint sind hier nicht Herzogs Bemerkungen zu den beiden „Varianten“ des Frauenlebens (der beruflichen und der häuslichen), sondern sein Ausflug ins Ausland, ins empfindliche Terrain jenseits der Oder. Besondere Vorsicht ist angesagt, denn erstens kann uns als Exportnation nicht gleichgültig sein, was unser Präsident zum Ausland äußert und zweitens ist Polen nicht irgendein Ausland, sondern vorrangiger Gegenstand unserer Versöhnungsbemühungen.
Eigentlich wollte Roman Herzog auch gar nicht über das Ausland sprechen, sondern über das Inland, über die Notwendigkeit, der jungen Generation in Deutschland jene Erfahrungen mit der Nazizeit zu vermitteln, die die Zeitgenossen so häufig „aus Schuld- und Schamgefühl“ verdrängt haben. Um diesem begrüßenswerten Ziel näherzukommen, bedarf es nach Herzog „neuer Sprachregelungen“. Hoffen wir, daß Herzog diesen der Praxis bürokratischer Normierung entlehnten Ausdruck weder wörtlich noch übertragen meinte, sondern einfach sagen wollte, daß wir die Schreckensgeschichte des Nazismus unsern Kindern auf lebendige und bewegende Weise näher bringen sollten. Hierzu also will Roman Herzog einen Beitrag leisten, durch einen Besuch in Warschau am 1. August, anläßlich des 50. Jahrestages des Aufstands.
Welches Aufstands? Daß unser Präsident bei Gelegenheit seines Besuchs „im Warschauer Ghetto sein will“, legt die Vermutung nahe, daß er den Warschauer Aufstand 1944 mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 verwechselt. In diesem Falle käme er ein Jahr zu spät. Ein solcher Besuch wäre auch nicht durchführbar, denn das Ghetto existiert nicht mehr. Was die Nazis von ihm übrigließen, fiel nach 1945 vollständig der Stadterneuerung zum Opfer. Falls der Präsident aber den Warschauer Aufstand von 1944 meint, so wäre der Besuch einer der nationalen Gedenkstätten naheliegend, die diesem Aufstand gewidmet sind.
Oder will der Präsident anläßlich des Gedenkens für den Warschauer Aufstand in besonderer Weise des jüdischen Widerstands gedenken? Tatsache ist, daß eine Reihe überlebender jüdischer Bürger Polens sich dem Aufstand von 1944 anschlossen — sie konnten das aber in der Regel nur tun, indem sie ihre Glaubenszugehörigkeit verleugneten. Der ganze Komplex des Verhältnisses von polnischem und jüdischem Widerstand ist im heutigen Polen zu kontrovers, so emotionsbeladen, daß die Stellungnahme eines deutschen Staatsgasts ungefähr das letzte ist, was dem deutsch- polnischen Verhältnis nottäte. Christian Semler
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