40 Jahre Republik Freies Wendland: Die Bretterbudenrepublik
Vor 40 Jahren riefen Anti-AKW-Aktivisten im Wendland die „Republik Freies Wendland“ aus. Bis heute hat diese Mikronation Bürger*innen.
Von Schienenbesetzungen sprachen sie, zivilem Ungehorsam, von Basisdemokratie und von „den Bullen“. Wenn die Polizisten einen erwischten – was bei Sitzblockaden mit eingepreist war, weil man nicht weglaufen, sondern sich wegtragen lassen sollte – dann müsse man denen nicht viel sagen, erklärte einer der Aktivisten, nur die grobe Berufsbezeichnung, seine Adresse und Staatsangehörigkeit: „Vorzugsweise erklärt ihr dann, ihr seid Bürger der Republik Freies Wendland“.
Am Ende jenes Infoabends ging auch ich mit einem der grünen „Wendenpässe“ samt gelbem Wappen besagter Republik nach Hause. Der Pass wurde dort für zehn Mark verkauft. Er funktionierte wie eine Spendenquittung und war doch mehr. Die Irritation haftete ihm an, Dokument eines alternativen Staates zu sein, den einfach auszurufen sich die Atomkraftgegner im Wendland getraut hatten. Eine Ansage. Und für mich noch vielmehr: eine Absage an die BRD.
Immer noch Referenz, war die Besetzung der Waldlichtung zwischen Gorleben und Trebel doch schon damals Jahrzehnte her, bei der die „Republik Freies Wendland“ gegründet wurde. Am Sonntag jährt sich das nun zum 40. Mal: Am 3. Mai 1980 hatten Atomkraftgegner nach einer Großdemonstration am Ort der „Tiefbohrstelle 1004“ begonnen, ein provisorisches Dorf zu errichten, um weitere Erkundungen zum Bau eines Atommüllendlagers zu verhindern. Den Protest so richtig angeschoben hatte 1979 der große Treck von Bauern aus Lüchow-Dannenberg nach Hannover. Die Besetzung war in den Anfangsjahren des Protests im Wendland der vorläufige Höhepunkt.
Ökospinner wurden Trendsetter
Nach und nach entstanden über 100 Hütten aus Holz und Lehm. Es habe sich eine kurzzeitige Öko-Utopie entwickelt, mit Gemüsebeeten, freilaufenden Hühnern, Windrädern und Sprecherrat samt Konsensprinzip – so erinnert sich Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, der dabei war. „Damals galten wir als Öko-Spinner, heute ist das Common Sense“, sagt er. Die „Republik“ hielt nur ein paar Wochen: Am 4. Juni 1980 rückten Polizei und Bundesgrenzschutz an und räumten.
Doch die Idee wirkte nach. Bis heute taucht die grüne Fahne aus dem Wendland bei Umweltprotesten auf, zieren Aufkleber mit dem Wappen die Heckklappen von lehrertypischen Volvo-Kombis. Womöglich funktioniert, dass sich die Aktivisten im Wendland vor 40 Jahren nicht mit der schlichten Deklaration ihrer „Republik“ begnügten, sondern sie mit allerlei Staffage dekorierten, die auch bei anderen Staaten als Insignien die Macht manifestieren sollen. Neben Fahne, Wappen, Pass und Stempel gab es am Eingang des Hüttendorfes eine Grenzstation mit Schlagbaum. Sogar so etwas wie einen Gründungsmythos hatte die Republik, wie ihn die Soziologie für viele Nationbuilding-Prozesse ausmacht: Die Besetzung schloss sich an eine Großdemonstration an unter dem Motto „Kampftag der Wenden“, eine alte Bezeichnung für Slawen in Deutschland, von der der Name des Wendlands abgeleitet ist.
Nun kann man sich Fragen, warum die kritischen Aktivisten unbedingt eine Republik ausrufen mussten, wo sie doch auch eine Kommune hätten gründen können. Aber ohnehin macht ja all das noch keinen richtigen Staat. Oder doch? Denn was unterscheidet einen „echten“ von einem Fantasiestaat, wenn man feststellt, dass auch die heutigen Nationen historisch gewachsen sind – real abstrakte Gebilde, die sich im Zweifel durch die Hand der Polizei manifestieren, die die Gesetze durchdrückt?
Ein Staat, so meinte der italienische Philosoph Antonio Gramsci, sei „Hegemonie, gepanzert mit Zwang“. Der Marxist betont demnach das Gewaltmonopol und die staatliche Befähigung, dieses durchzusetzen. Klar: Das war die Sache der Umweltaktivisten nicht. Der Bremer Historiker Moritz Zeiler, Autor einer Einführung in die materialistische Staatskritik, weist aber darauf hin, dass bei Gramscis Staatsdefinition neben der Repression auch die Legitimation von Herrschaft wichtig sei. „Das meint eine Bejahung und Duldung des Staates sowohl von innen wie auch von außen“, erklärt Zeiler.
Für einen Staat reicht es also nicht, dass sich ein paar Hippies im Wendland Pässe drucken und als potenzielles Staatsvolk die selbst gegebenen Regeln akzeptieren. Aber: Die Akzeptanz nach innen ist durchaus ein Anfang. Gleichwohl fehlte – das wurde spätestens mit der Räumung klar – ein Mindestmaß an äußerer Akzeptanz für den Wendland-Staat. Diplomatische Beziehungen: Fehlanzeige.
Vorwurf des Hochverrats
Obwohl nach der Räumung in einigen Städten immerhin „Botschaften“ der Republik entstanden – ein Jahr lang wurde unter diesem Motto eine Besetzung samt Hütte am Bremer Kennedy-Platz geduldet und über den „Bretterbudenstaat“ debattiert, wie ihn der Weser-Kurier nannte.
Tatsächlich sollen Aktivisten mit den Wendland-Pässen sogar bis auf die griechischen Inseln gereist sein, so lautet eine der Legenden. 2010 stellte Elke Mundhenk, grüne Bürgermeisterin von Dannenberg, dem Whistleblower Edward Snowden einen Wendenpass aus – medial begleitet vom Norddeutschen Rundfunk, der die Bürgermeisterin ganz selbstverständlich als „Bürgerin der von Atomkraftgegnern ins Leben gerufenen Republik“ vorstellte und über den „Deutschen Pass für Edward Snowden“ gewohnt seriös berichtete.
1980 wäre die Bürgermeisterin damit nicht durchgekommen. Wie die taz berichtete, hielt der damalige niedersächsische CDU-Innenminister Egbert Möcklinghoff die Ausrufung der „Republik Freies Wendland“ für „Hochverrat gegen die Bundesrepublik Deutschland“, weil ein Teil des Territoriums der BRD abgespalten werde.
Kinderkram oder Hochverrat?
Aber war es das nicht auch? Heute erklären Verwaltungsjuristen, Hoheitszeichen von Fantasie-Staaten herzustellen sei kein Hochverrat, sondern Kinderkram. Erst, wenn ein Dokument den Anschein erwecke, Hoheitszeichen eines echten Staates zu sein, werde es illegal. Andere Regeln gelten aber beispielsweise in Bezug auf das Überkleben des EU-Wappens auf Nummernschildern, wie es im Wendland mit dem eigenen Republik-Wappen zu beobachten war. Offiziell entspricht das Kraftfahrzeug damit laut Fahrzeug-Zulassungsverordnung nicht mehr den gesetzlichen Bestimmungen und müsste stillgelegt werden. All das war den protesterprobten Wendländern natürlich egal.
So differenziert ausformuliert allerdings sind diese Bestimmungen heute, weil die Ausrufung eigener Fantasiestaaten in den letzten Jahren eine Hochkonjunktur erlebte – allerdings von rechts. Behörden haben es mittlerweile regelmäßig mit sogenannten Reichsbürgern zu tun, meist, wenn die sich weigern, Steuern oder Abgaben an die Bundesrepublik zu zahlen.
Reichsbürger ist ein Sammelbegriff für eine Gruppe, unter denen unterschiedliche rechte Steuerschuldner, Selbstverwalter und Verschwörungsideologen zusammengefasst werden, die alle gemeinsam haben, dass sie die Bundesrepublik nicht akzeptieren. 1.350 von bundesweit 19.000 dieser Spinner zählt das Landesamt für Verfassungsschutz allein für Niedersachsen.
Fantasievoller Widerstand
Manche weigern sich, zur angeblichen „BRD-GmbH“ zu gehören – und geben ihre „Personal“-Ausweise zurück. Andere meinen, das Deutsche Reich müsste in seinen Grenzen von anno dazumal fortbestehen. Und wieder andere gründen eben einfach ihre eigenen Staaten, wie das „Fürstentum Germania“, bei dem der Worpsweder Braun-Esoteriker Jo Conrad dabei war, oder das „Königreich Deutschland“ des selbsternannten Monarchen Peter Fitzek im sachsen-anhaltinischen Wittenberg. Auch Fitzek hatte ein Gelände mit Schlagbaum, hatte Wappen und eigene Nummernschilder.
Gleichwohl wäre es falsch, die rechten Fantasienationen mit der Öko-Utopie im Wendland gleichzusetzen. Denn die Reichsbürger sind manchmal gewalttätig, oft antisemitische Hetzer und immer auch Verschwörungsideologen. Der wichtigste Unterschied aber ist ihr Realitätsverlust – und ihre Ironiefreiheit. Reichsbürger meinen es ernst.
Im Wendland ging es mit der Republik um das Gegenteil: „Es war natürlich eine Karikatur“, sagt Umweltaktivist Ehmke. „Es war ein großes Theaterstück und ging um fantasievollen Widerstand. Schlagbaum und Pass sollten ein großer Spaß sein.“ Die Polizei habe man ärgern wollen, ansonsten ging es um Öffnung. „Tausende kamen zu Besuch.“
Damals sei allen klar gewesen, dass man mit Strafverfahren habe rechnen müssen. Man habe das bei Gesetzesüberschreitungen bewusst in Kauf genommen. „Es ging uns um eine notwendige Korrektur politischer Fehlentwicklungen durch Aktionen zivilen Ungehorsams“, sagt Ehmke. Dass man, wo man anders nicht weiterkommt, irgendwann entschlossene Aktionen brauche, sehe man heute bei Fridays for Future. Für Ehmke ein Erbe des Protests, der bei Gorleben einen seiner Anfänge nahm.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin