Eine Stadt, ein Pogrom und die Gegenwehr

Die rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen wirken bis heute nach. Wie blicken ein Aktivist, ein Historiker und ein Betroffenenvertreter auf die Ereignisse von damals – und auf ihre Stadt in der Gegenwart?

Rostock-Lichtenhagen am 29.8.1992, Gegenproteste und Schaulustige Foto: Martin Langer/Agentur Focus

Von Katharina Warda

Peer Stolle kommt gerade frisch aus der Haft. Es ist Montag, der 24. August 1992, Tag drei der wahrscheinlich massivsten rassistischen Ausschreitungen seit 1945. Der 19-Jährige hatte sich dem Mob in Rostock-Lichtenhagen noch zusammen mit anderen entgegengestellt. Er wurde verhaftet. Jetzt sitzen sie im links-alternativen Jugendzentrum JAZ in Rostock und sehen im Fernseher das Sonnenblumenhaus brennen.

„Dass die Ausschreitungen stattfinden würden, war angekündigt. Aber die Dimension hat mich überrascht“, erzählt der Ex-Rostocker 30 Jahre später über die Anfänge des Pogroms. Am Telefon erinnert Stolle sich, dass noch wenige Wochen zuvor die rechts­ex­tre­me Kleinstpartei „Hamburger Liste für Ausländerstopp“ asylfeindliche Flugblätter verteilt hatte. Zeitungen griffen das auf: „Die haben in der Woche vorher Menschen zitiert, die in etwa sagten: ‚Samstag werden Steine fliegen‘ oder ‚Samstag räuchern wir die aus.‘ “ Dann ist Samstag.

Am 22. August 1992 kommen bis zu 2.000 Menschen vor der ZASt zusammen, der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber im Sonnenblumenhaus. Es ist eine Mischung aus lokalen Neonazis, erlebnisorientierten Jugendlichen und einfachen Bürger:innen. Betonplatten werden zerbrochen. Die ersten Steine fliegen gegen das Haus, vermummte Jugendliche rufen rechtsradikale Parolen.

Im Sonnenblumenhaus, einem Plattenbaukomplex, leben zu dem Zeitpunkt ehemalige vietnamesische Ver­trags­ar­bei­te­r:in­nen der DDR in einem Wohnheim, in der ZASt kommen Asyl­be­wer­be­r:in­nen unter. Nur 300 Betten gibt es dort, im Frühjahr 1992 sind alle belegt. Es kommen weitere Geflüchtete, aus dem ehemaligen Ju­go­sla­wien und Rumänien. Sie campieren über Wochen vor dem Haus. Um eine Lösung kümmert sich niemand. Überall in Deutschland heißt es zu dieser Zeit nur: Das Boot ist voll.

1992 dominieren Debatten zu Ausländer- und Asylpolitik die öffentlichen Diskurse – in West wie Ost. „Die Flut steigt – wann sinkt das Boot?“ oder „Fast jede Minute ein neuer Asylant“, lauten Schlagzeilen der Bild. Die Regierungsparteien CDU und CSU fordern die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl. Im Osten treffen diese rassistischen Asyldiskurse auf Transformation und Chaos, auf einen erstarkenden Nationalismus und auf chauvinistische bis rassistische Muster der ehemaligen DDR-Gesellschaft.

„Mit den massiven Entlassungswellen im Osten kippte die ursprüngliche Euphorie der Ostdeutschen über Mauerfall und Wende zu einer teils depressiven, teils aggressiven Grundstimmung“, analysiert der Historiker Patrice Poutrus. Die ersten Entlassungen treffen die Ar­beit­smi­gran­t:in­nen der DDR. Ihre Verträge enden mit dem Mauerfall, und die Erwartungshaltung ihrer Nach­ba­r:in­nen war: Jetzt sollen sie wieder gehen.

Poutrus beschreibt das als Umlenkungsstrategie, die von den eigentlichen Problemen ablenke und Gewalt als Mittel der Problemlösung legitimiere: „Wenn man sich nur der Ausländer entledigte, würden alle Pro­ble­me gelöst werden. Daraus entstand in Ostdeutschland eine explosive Mischung, die es in der BRD so nicht gab.“ Die Rechtsradikalen fühlten sich berechtigt, selbst für das Verschwinden von anders Aussehenden zu sorgen.

Das Onlineprojekt „zweiteroktober90“ zählt allein für die Nacht der Wiedervereinigung über 30 pogromartige Ausschreitungen in der gesamten Bundesrepublik, vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Die Gewalt in der Nacht der Staatsgründung setzt sich in den folgenden Jahren fort.

„Bezeichnend ist auch die Straflosigkeit der Täter:innen, die eine Art Normalisierung und Legitimation erfahren haben“

Patrice Poutrus, Historiker

Amadeu Antonio wird 1990 das erste bekannte Todesopfer rassistischer Gewalt. In der Nähe von Rostock wird im März 1992 der gebürtige Rumäne Dragomir Christinel getötet. Und am 22. August 1992 eskaliert die Gewalt in Rostock-Lichtenhagen. Zwei Tage später brennt das Sonnenblumenhaus, wie durch ein Wunder überleben alle.

Die Polizei ist all die Tage mit zu wenigen Kräften vor Ort. Linke Ak­ti­vis­t:in­nen versuchen, Präsenz zu zeigen. Am zweiten Tag der Angriffe, dem 23. August, beschließen Peer Stolle und andere, dass sie nach einer ersten Mobilisierung nun genug Leute sind, um einzuschreiten. Am Nachmittag kommen sie zunächst nicht durch die Polizeikette. „Wir haben uns dann später in der Nacht vom 23. zum 24. August formiert, unsere Autos leise geparkt, so laut wie möglich ‚Nazis raus!‘ gebrüllt und sind mit viel Wut vor dieses Haus gelaufen“, erinnert sich Stolle. „Und dann sind die Nazis weggerannt.“

An diesem Punkt hätte die Geschichte anders laufen können, aber der Moment hielt nicht lange. „Wir sind erst mal vor dem Haus geblieben, wollten dann aber eine Demo durch Lichtenhagen machen“, erzählt Stolle. „Auf dem Rückweg zu den Autos wurden wir festgenommen und saßen bis Montag ein.“ Diejenigen, die das Haus beschützen wollten, werden von der Polizei als Mit­tä­te­r:in­nen eingestuft. Ein fataler Fehler. Als Stolle und seine Mit­strei­ter:in­nen wieder freikommen, treffen sie sich im JAZ und sehen auf ihrem Fernsehbildschirm das Sonnenblumenhaus brennen. Sie wissen, sie sind zu spät.

Der Historiker Poutrus bezeichnet Rostock-Lichtenhagen als konstitutives Moment, als „innere Staatsgründung“ der Berliner Republik. Fester Bestandteil: die Das-Boot-ist-voll-Rhetorik. Die SPD stimmt einem faulen Asylkompromiss zu. „Das Thema wird als politisches Problem behandelt, nicht als humanitäre Frage, und unabhängig davon, welchen Gefahren die eigentlichen Betroffenen ausgesetzt sind,“ sagt Poutrus. „Bezeichnend für dieses Moment ist auch die Straflosigkeit der Tä­te­r:in­nen, die eine Art Normalisierung und Legitimation erfahren haben.“

Im April 1999 ist Seyhmus Attay-Lichtermann 15 Jahre alt. Seine Eltern fliehen mit ihm und seiner Schwester aus der Türkei – und landen in Rostock-Lichtenhagen. „Ich verstehe noch immer nicht, warum die Behörden uns dort hingesteckt haben“, erzählt Attay-Lichtermann heute. „Wir haben in einem Block direkt gegenüber des Sonnenblumenhauses gewohnt. Und das war damals von Skinheads besetzt.“

Jeden Tag treffen sich die Rechtsradikalen vor dem Haus, beleidigen die migrantischen und migrantisierten An­woh­ne­r:innen, schwingen NDP- und Reichsflaggen und brechen mehrfach in Attay-Lichtermanns Keller ein. Auch außerhalb von Lichtenhagen werden er und seine Familie regelmäßig beleidigt und angegriffen. Einmal, in Warnemünde, wird die Familie von etwa 20 Neonazis auf offener Straße zusammengeschlagen. Nur eine Frau und später ein Mann greifen ein.

Heute erinnert sich Attay-Lichtermann, mittlerweile Vorsitzender des 1992 gegründeten Migrantenrats Rostock, schmerzhaft an diese Jahre: „Bis heute habe ich Angst, meine Muttersprache im Bus zu sprechen. Ich habe Angst, wieder angegriffen und angespuckt zu werden.“ Insgesamt habe sich das Stadtbild allerdings spürbar verändert. Mehr Mi­gran­t:in­nen ziehen nach Rostock, die Stadt wird bunter. Auch erlebe er ein Erstarken der lokalen Zivilgesellschaft. Das war Arbeit.

„Wir mussten uns nach Rostock-Lichtenhagen damit auseinandersetzen, was man nun macht mit der Stadt,“ erinnert sich Peer Stolle. Direkt nach dem Pogrom organisiert die Gruppe vom Jugendzentrum JAZ eine Protestdemo, an der etwa 20.000 Menschen teilnehmen. In den Monaten und Jahren danach bringen sich die Ak­ti­vis­t:in­nen verstärkt in die Stadtgesellschaft ein und leisten zivilgesellschaftliche Arbeit zugunsten eines antifaschistischen Klimas in der Stadt.

Die zivilgesellschaftliche Arbeit der letzten Jahrzehnte trage auch langsam Früchte, meint Stolle. Heute würden Rechte politisch in Rostock kaum noch eine Rolle spielen. „Natürlich gibt es wie überall die 10 Prozent AfD-­Wäh­le­r:in­nen, aber sie bestimmen nicht den Diskurs und das Bild der Stadt.“ Rostock sei eine vielfältige Stadt geworden. „Zyniker haben die Gegendemos später als Lichterkettenromantik bezeichnet“, erzählt Historiker Poutrus. „Aber die haben gezeigt, dass die deutsche Gesellschaft vielfältiger aufgestellt ist, als man denkt. Die eigentliche Konfliktlinie verläuft durch die Gesellschaft selbst.“ Soll heißen: Es ging nie nur um Asyl­be­wer­be­r:in­nen und Nazis, sondern um die Gesellschaft als Ganzes. Alle definieren gemeinsam, wie wir miteinander leben wollen. „Ohne Gegenwehr ist das, was die Täter tun, was alle denken“, meint Poutrus.

Mitarbeit: Katrin Gottschalk

Katharina Warda ist freie Journalistin in Berlin und arbeitet zu den Themen Ostdeutschland, Rassismus, Klassismus und Punk. Unter dem Begriff „Dunkeldeutschland“ erzählt die gebürtige Thüringerin in Gesprächen, Essays und Vorträgen von sozialen Verwerfungen in der Nachwendezeit.