30 Jahre Einheit in Neuruppin: Anderswo ist es noch schlimmer
Neuruppin ist Zentrum einer strukturschwachen Region Brandenburgs. Behaupten kann es sich, weil es einen See gibt, Möwen und schnurgerade Straßen.
In Neuruppin laufen die Straßen schnurgerade und parallel zueinander. Die Wege sind breit, die Plätze riesig, die Bäume stehen gerade in einer Reihe. Korrekt und geplant. Wie am Reißbrett entstanden, so wirkt Neuruppin. Und genau so war es ja auch: 1787 zerstörte ein Brand große Teile der Stadt. Beim Wiederaufbau steuerte der Staat Preußen eine große Summe hinzu. Friedrich Wilhelm II. dankten es die Neuruppiner später: Er steht auch heute noch an prominenter Stelle, auf dem Schulplatz. Von seinem Sockel aus schaut er nicht auf die Neuruppiner hinab, sondern über sie hinweg in Richtung Altes Gymnasium, einem der Prachtbauten der Stadt. Dahinter, einige Straßenzüge weiter, befindet sich der Ruppiner See.
Im Winter weht der Wind durch diese Straßen, eisig und erbarmungslos. Im Sommer aber sind sie ein Zentrum des Lebens. Keine leere Trostlosigkeit, wie sie dem Bild entsprechen mag, das viele vom Osten haben, in den sie noch nie einen Fuß gesetzt haben. Nein, noch nicht einmal im Neubaugebiet. Leben herrscht hier, auch wenn nicht weit entfernt das große Berlin liegt, wie eine Verheißung für die einen, wie eine Drohung für andere.
Schließungszeit
Verheißung vor allem für jene, denen in Berlin alles etwas glänzender, etwas besser erscheint. Sie kehren Neuruppin den Rücken, weil die Glitzerfassade lockt – doch viele kommen zurück, auch weil Neuruppin ihre Heimat geblieben ist. Bedrohung für jene, die sehen, dass die große Stadt mit ihren Arbeitsplätzen und Vergnügungen die Jungen lockt und so Leben abzieht aus Neuruppin.
30 Jahre neues Deutschland: Was ist das heute für ein Land? Lokalredakteur*innen aus dem Norden, Süden, Osten und Westen erzählen ihre wichtigsten Geschichten – in der taz am Wochenende vom 02. Oktober. Aus Brandenburg berichtet Judith Melzer-Voigt über den Wandel einer ostdeutschen Kleinstadt vom grauen Einerlei zu Bunt. Aus Baden-Württemberg berichtet Peter Schwarz über den Amoklauf von Winnenden und Corona-Leugner. Aus Niedersachsen berichtet Kathi Flau über ein gutes Rezept gegen Identitätsprobleme. Aus Sachsen berichtet Josa Mania-Schlegel über bürgerliche Sympathien für die Hausbesetzer von Connewitz – und, und, und... Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Viele Orte im Umkreis haben Schwierigkeiten, gegen Berlin zu bestehen. Der Bäcker macht zu, Kleidung ordern die Einwohner aus dem Internet, die ewig gleichen Supermarktketten drängen sich am Stadtrand und zerstören die Innenstädte. Irgendwann kommen die Menschen nur noch zum Schlafen nach Hause, denn auch Jobs gibt es nur anderswo. In Neuruppin ist das nicht so. Innenstadtleben gibt es noch, unter anderem dank mobiler Händler, die drei Mal in der Woche auf dem Schulplatz ihre Waren anpreisen: frisches Obst, Eier, Brot.
An diesem Platz gibt es viele kleine Geschäfte, sogar die heimische Buchhandlung existiert noch. Für viele Neuruppiner ist es Ehrensache, dort zu kaufen. Und im Stadtgarten mit seinem sanierungsbedürtigen Ost-Charme treten internationale Größen auf, ebenso in der Kulturkirche. Jan Josef Liefers? Haben wir. Suzi Quatro? Kommt auch noch. Doro Pesch? War schon mal da.
Zwei Lokalzeitungen hat die kleine Stadt, unter anderem den Ruppiner Anzeiger als eine der ersten Neugründungen nach der Wende – und eine von vieren bundesweit, die noch immer bestehen. Das Lokale steht dort vorn, auf der ersten Seite. Und Lokalpatrioten gibt es in Neuruppin viele, gab es schon immer. Der Schriftsteller Theodor Fontane war einer davon: Auch von ihm gibt es ein großes Denkmal, allerdings ist sein Blick nicht in Richtung Stadtzentrum gerichtet, sondern genau in die andere. Fontane dreht Neuruppin den Rücken zu – immer wieder Steilvorlage für manch bissige Bemerkung.
Aus Liebe bleiben
Die Einwohner der Stadt sind eben auch typische Brandenburger: Sie wirken selten so richtig zufrieden. Da bekommen sie einen supermodernen Museumsanbau und mögen ihn nicht. Zu groß, zu teuer. Der Schulplatz war früher auch schöner, da gab es mehr Grün. Auf dem Braschplatz haben sie vor ein paar Jahren noch richtig schöne Blumen gepflanzt, weißt du noch? Macht heute auch keiner mehr. Und überhaupt: Es kümmert sich ja niemand.
Die Person: Judith Melzer-Voigt, 36
Job: Redakteurin, zuständig für die Stadt Neuruppin
Zeitung: Ruppiner Anzeiger, wir gehören zur Märkischen Oderzeitung
Erscheinungsort: Im brandenburgischen Landkreis Ostprignitz-Ruppin
Auflage: Zirka 4.400 verkaufte Zeitungen (Stand 2/20)
Der größte Coup Ihrer Zeitung: Die Berichterstattung über die führenden Köpfe der sogenannten XY-Bande, die unter anderem für Drogenhandel bekannt war.
Region: Natur, Seen, Brandenburg pur
Wohin fahren die Menschen, wenn sie etwas erleben wollen? Raus, in den Wald, sie gehen schwimmen oder mieten ein Boot. Es gibt einen Heimattierpark und viel Kultur.
Autokennzeichen: OPR, für Lokalpatrioten (und es werden mehr) auch NP für Neuruppin
„Denk ich an Deutschland im Jahr 2020, dann …“
… habe ich ein leicht beklemmendes Gefühl in der Bauchgegend. Und das liegt nicht an der Coronapandemie, sondern am Populismus und an der fehlenden Empathie für andere Menschen.
Trotzdem lieben die Neuruppiner ihre Stadt. Wer mit ihnen redet, hört oft, dass sie auf gar keinen Fall woanders leben wollen. Denn da ist es ja noch schlimmer! In Wirklichkeit sind die Neuruppiner stolz auf ihre Stadt. Auch wenn sich diese Liebe nur darin äußert, nicht wegzuziehen. Junge Leute indes, die wieder zurückkehren oder neu hinzukommen, fühlen sich hier schnell wohl. Und bei Kulturveranstaltungen kommen mittlerweile sogar Besucher aus Berlin. Die Gastronomen merken es, und vor dem Vier-Sterne-Hotel mit Therme am Ruppiner See parken nun Autos mit Nummernschildern aus ganz Deutschland und der Welt.
Die grauen Jahre nach der Wende, als ganze Großbetriebe wie die Elektrophysikalischen Werke abgewickelt wurden, sind überwunden. Aus dem Schmerz dieser Zeit ist leise Nostalgie geworden. Jeder hier kennt irgendwen, der bei den „EPW“ gearbeitet hat, den Job verloren hat und vollkommen neu anfangen musste. Dieser Betrieb, in dem vor der Wende Teile für Fernseher und Robotron-Schreibmaschinen gefertigt wurden, war für diejenigen, die dort gearbeitet haben, nicht nur eine Arbeitsstelle, sondern ein Stück Zuhause.
Heute geht es den Neuruppinern so gut, dass sie über die vielen Touristen schimpfen, die andernorts sehnsüchtig erwartet werden. Sie sind einerseits stolz darauf, dass ihre kleine Stadt am Ruppiner See so vielen Menschen gefällt. Und andererseits eben Brandenburger, die das Gehabe der Touristen manchmal mit Argwohn und einem leisen Lächeln betrachten. Kommen sollen sie aber trotzdem, die Gäste. Da ist sie wieder, diese Suche nach Reibungspunkten.
Und alle – Einheimische, Zugezogene und Besucher – schimpfen gemeinsam über die Bahnverbindung: Der RE6 kommt manchmal gar nicht, dann fällt er aus und generell fährt er nur alle Stunde. Ab 2024 soll sich das ändern, die große Hoffnung der einheimischen Politiker liegt in einer halbstündlichen Verbindung nach Berlin.
Raus aus der Stadt
Was nun wiederum einige Einheimische besorgt, bringen doch Berlin-Nähe und idyllische Lage schon jetzt Nachteile mit sich: In der Stadt entstehen immer mehr Wohngebiete, viele aus privater Hand finanziert. Doch wer kann es sich hier schon leisten, für 70 Quadratmeter mehr als 350.000 Euro zu zahlen?
Es finden sich natürlich Käufer, keine Sorge. Nur aus Neuruppin kommen sie selten. Familien, die eine bezahlbare Wohnung suchen, weichen entweder ins Neubaugebiet oder gleich in die Dörfer in der Umgebung aus – weg aus der schönen Stadt am See. Seit Jahren kämpft die örtliche Politik um bezahlbaren Wohnraum. Die einheimische Wohnungsbaugesellschaft beruft sich zwar stolz darauf, dass die Mieten bei ihr mit im Schnitt 5 bis 6 Euro je Quadratmeter kalt gar nicht teuer seien.
Doch um in diesen Genuss zu kommen, müssten viele ihre gewohnte Altstadt verlassen und ins Neubaugebiet ziehen. Kein Blick mehr auf die Klosterkirche, keine kreischenden Möwen, die vom See heranfliegen. Derweil schießen am Stadtrand die Eigenheime wie Pilze aus dem Boden. Baugrund ist so gefragt, dass auch mal ein Spielplatz weichen muss.
Ab und an holpern die Autos auch in Neuruppin noch über Straßen, die diesen Namen nicht verdienen. Die Straße des Friedens, die zum Bahnhof Rheinsberger Tor führt, wird von den meisten mittlerweile gemieden. Sie gehört dem Land und soll nun doch endlich saniert werden. Doch diese Holperpisten werden weniger, so wie die grauen DDR-Spritzputzfassaden, die noch lange nach der Wende viele Häuser zierten. Vielerorts sind sie zartem Rosa, Blau, verwegenem Grün oder allgegenwärtigem Beige gewichen. Grau, das ist Neuruppin jedenfalls nicht mehr.
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