30 Jahre Einheit im Bayerischen Wald: Finger weg von unserer Waldbahn!
Im Bayerischen Wald fährt am Fluss Schwarzer Regen eine Bahn. Die Verbindung sollte nun gestrichen werden, aber die Menschen wehrten sich.
Nur wollen die Menschen, die dort leben, wo andere Urlaub machen, eben auch einmal dort Urlaub machen, wo andere leben. Dafür müssten sie aus dem Bayerischen Wald aber wegkommen. Und das ist schwierig, zumindest ohne Auto.
Was das Bayerische Verkehrsministerium Ende August verkündete, war ein Schock für die Bewohner des Landkreises Regen im Norden des Mittelgebirges. Nach fünf Jahren Probebetrieb, hieß es in einer kargen Pressemitteilung, soll die Bahnstrecke zwischen Gotteszell und Viechtach eingestellt werden. Sie verkehrt stündlich durch das Tal des Schwarzen Regens, das der Landkreis werbewirksam „Bayerisch Kanada“ nennt.
Touristen reisen auf der Strecke an, Einheimische nutzen die Verbindung, um zur Arbeit zu pendeln, oder als Ausgangspunkt für Reisen. Zwei Umstiege und knapp drei Stunden später können sie am Münchner Flughafen sein.
Die Person: Alexander Augustin, 25
Job: Redakteur für Sport und Lokales
Zeitung: Passauer Neue Presse
Erscheinungsort: Südostbayern
Auflage: 153.981 (Stand 2/20)
Der größte Coup Ihrer Zeitung: Aufdecken der Huber-Affäre – über einen Kreisrat und Vorsitzenden des Berufsschulverbands Passau, der Aufträge an sich selbst vergab.
Region: Menschen mit harter Schale und weichem Kern, Wälder, Berge, Täler, Bairisch, Volksfeste, Bier
Wohin fahren die Menschen, wenn sie etwas erleben wollen? Nach Passau zum Bummeln, in den Bayerwald zum Wandern und Skifahren, ins Rottal zum Golfen und Baden
Autokennzeichen: REG. Im Verbreitungsgebiet der PNP außerdem: PA, FRG, PAN, DEG, TS, BGL, VIT, WOS, GRA
„Denk ich an Deutschland im Jahr 2020, dann“ … ist mir für die Zukunft bei Weitem nicht so bange, wie manche das gern hätten.
Wirtschaftlich nicht rentabel
Im September 2021 solle der letzte Zug fahren, schrieb das Ministerium, ohne irgendjemanden vorgewarnt zu haben. Die Fahrgastzahlen lägen weit unter dem geforderten Wert. Während die Behörde fordert, dass jeder Kilometer pro Tag von 1.000 Fahrgästen passiert werden muss, schafft die Waldbahn keine 500. Nach offizieller Rechnung wirtschaftlich und ökologisch nicht rentabel. Klarer Fall? Eben nicht.
In den Tagen nach der Mitteilung begehrt der Landkreis auf. Politiker aller großen Parteien schließen sich zusammen. In Bayern lässt sich die Brisanz eines Themas immer gut am Auftreten der CSU ablesen. Wenn sich hochrangige Mitglieder öffentlich bekriegen, brennt der Baum.
Landtagskollegen, Ex-Minister, Bürgermeister werfen CSU-Verkehrsministerin Kerstin Schreyer vor, nur den Ballungsraum München im Blick zu haben und sich gegenüber dem Bayerischen Wald „herablassend, despektierlich und abschätzig“ zu verhalten, wie Kreisvorstand Stefan Ebner, 2017 Landratskandidat der CSU, es ausdrückt. Von der AfD bis zu den Grünen – alle dreschen auf Schreyer ein, die im Sommerurlaub war, als ihre Mitarbeiter die Nachricht veröffentlichten.
Da ist er wieder, der eigentlich längst überwundene Komplex der Bayerwäldler: Die Elfenbeinturm-Politiker im Münchner Maximilianeum interessierten sich nicht für die ländlichen Gebiete, schon gar nicht für die ehemalige Grenzregion am Eisernen Vorhang.
Wenn Politiker im Landtag von Aufsteigerregionen reden, dient ihnen der Bayerische Wald oft als Paradebeispiel. Wirtschaftlich hat sich die Gegend um den Großen Arber prächtig entwickelt. Der Tourismus floriert, der beliebteste Urlaubsort Bodenmais vermeldet Jahr für Jahr Übernachtungsrekorde – 2019 waren es mehr als 800.000.
Genauigkeit und Verlässlichkeit
Die Menschen schätzen die Ruhe im größten zusammenhängenden Waldgebiet Europas mit seinen malerischen Flusstälern. Handwerksfirmen sind über Monate ausgebucht. Schreinereien produzieren für die Deutsche Bahn, Elektrounternehmen erhalten Großaufträge vom Freistaat. Gerade im Ballungsraum München setzen Auftraggeber auf die Genauigkeit und Verlässlichkeit der Bayerwäldler – und auf die niedrigen Preise, die sie aufrufen.
Die Region profitiert auch von der Nähe zum BMW-Produktionsstandort Dingolfing. Trotzdem: Die Arbeitslosenzahlen sind nach wie vor höher als in anderen Landkreisen Niederbayerns, das Lohnniveau niedriger. Der „Woid“, zu DDR-Zeiten gefangen im Niemandsland zwischen West und Ost, hat den Rückstand seit der Wende verkürzt, aber noch nicht aufgeholt. Das zeigt sich auch im öffentlichen Nahverkehr.
„Was den ÖPNV angeht, fangen wir bei null an“, sagt Rita Röhrl, die Regener Landrätin. Viele Dorfbewohner kennen Linienbusse nur aus dem Fernsehen. Wenn es gut läuft, kommt zweimal am Tag ein Schulbus vorbei.
30 Jahre neues Deutschland: Was ist das heute für ein Land? Lokalredakteur*innen aus dem Norden, Süden, Osten und Westen erzählen ihre wichtigsten Geschichten – in der taz am Wochenende vom 02. Oktober. Aus Brandenburg berichtet Judith Melzer-Voigt über den Wandel einer ostdeutschen Kleinstadt vom grauen Einerlei zu Bunt. Aus Baden-Württemberg berichtet Peter Schwarz über den Amoklauf von Winnenden und Corona-Leugner. Aus Niedersachsen berichtet Kathi Flau über ein gutes Rezept gegen Identitätsprobleme. Aus Sachsen berichtet Josa Mania-Schlegel über bürgerliche Sympathien für die Hausbesetzer von Connewitz – und, und, und... Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Die Waldbahn zwischen Gotteszell und Viechtach soll das Rückgrat eines ÖPNV-Konzepts sein, das der Landkreis gerade für viel Geld ausarbeitet. Ein Linienbussystem, abgestimmt auf die Fahrzeiten der Waldbahn, soll Menschen ohne Auto mobil machen. Junge Erwachsene könnten zur Arbeit oder Uni pendeln, Ältere und Menschen mit Behinderung barrierefrei reisen. Das Konzept des Landkreises soll das Auto nicht ersetzen, aber ergänzen.
Eine Kommunikationspanne?
Seit 1991 fuhren auf der Waldbahn-Strecke keine Personenzüge mehr. Mehr als ein Jahrzehnt kämpfen Ehrenamtliche nun schon um die dauerhafte Reaktivierung der Strecke. Ein Meilenstein: der Start des Probebetriebs 2016.
Im Vergleich zu anderen Regionalbahnen in Niederbayern wird die Waldbahn gut angenommen, doch schnell ist klar: Die 1.000er-Grenze wird sie wohl nie erreichen. In der Region fühlt man sich durch diese Vorgabe gegängelt. „Es wurde immer wieder nach Argumenten gesucht, die gegen die Reaktivierung sprechen“, sagt der ehemalige CSU-Landtagsabgeordnete und Landwirtschaftsminister Helmut Brunner rückblickend. 2018 sollte der Probebetrieb enden, doch die Region erkämpfte sich drei weitere Jahre. Und nun?
Zwei Wochen nach der Pressemitteilung steht Verkehrsministerin Kerstin Schreyer an einem Spätsommerabend auf dem Regener Stadtplatz. Ihr gegenüber: 300 Demonstranten. Sie pfeifen, buhen. Schreyer muss sich stellen, der Druck war zu groß geworden. Und sie hat eine Nachricht im Gepäck, mit der die Demonstranten nicht gerechnet haben.
Sie nimmt die Waldbahn-Entscheidung zurück und staucht bei der Gelegenheit öffentlich ihre Mitarbeiter zusammen: Diese hätten in ihrem Urlaub eine Entscheidung bekannt gegeben, die noch gar nicht abschließend getroffen worden sei. Eine Kommunikationspanne, räumt Schreyer ein. Ein bemerkenswerter politischer Vorgang.
Die Kernbotschaft Schreyers lautet: Die Waldbahn darf vorerst weiterfahren – ohne zeitliche Begrenzung. Wenigstens so lange, bis eine Studie zum öffentlichen Nahverkehr im Bayerischen Wald fertig ist. Das wird noch mindestens zwei Jahre dauern.
Nicht aufs Abstellgleis
Danach soll neu bewertet werden. Die Pfiffe auf dem Regener Stadtplatz werden leiser. Nach Schreyers Rede: Applaus. „Viele Menschen erwarten von Politikern nicht, dass sie sich entschuldigen“, sagt Schreyer später. In einer Region, in der man sich die Dinge ins Gesicht sagt, kommt die hemdsärmlige Art der Ministerin an.
Dieser 7. September 2020 könnte der Anfang vom Dauerbetrieb der Waldbahn sein. Und es könnte der Tag gewesen sein, an dem sich in der Region die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass man eben nicht alles schlucken muss, was einem aus dem fernen München vorgesetzt wird. Wenn man nur eng genug zusammenrückt, kann man sogar die Entscheidung eines Ministeriums kippen.
Oder wie Ex-Landwirtschaftsminister Brunner es formuliert: „Das Thema hat die Region zusammengeschweißt. Die Menschen spüren: Die Region darf nicht aufs Abstellgleis gestellt werden.“
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