30 Jahre Berliner Landesverband: Die Autonomen von den Grünen
Der Berliner Landesverband feiert 30. Geburtstag. Lange hat er sich gewehrt, grün zu werden. Bis 1993 hieß die Partei Alternative Liste. Es war ein langer Häutungsprozess, sagt Gründungsmitglied Peter Sellin
Peter Sellin erinnert sich noch gut an den ersten Auftritt der Alternativen Liste (AL) auf Bundesebene. Im Januar 1980 war es, da reisten die Berliner Ökos zur ersten Bundesversammlung der Grünen nach Karlsruhe. Es war ein denkwürdiges Treffen. Nicht nur, weil aus den zahlreichen Anti-AKW-Initiativen und grün-alternativen Basisgruppen erstmals eine neue, grüne Partei gegründet werden sollte.
Denkwürdig war das Karlsruher Bundestreffen für das Berliner Gründungsmitglied Sellin auch, weil die Berliner von Anfang an eine Extrawurst beanspruchten. "Sie reisten gleich mit zwei Delegationen an - der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz und einer autonomen Delegation", so der heute 59-Jährige. Beide fuhren nach Karlsruhe, um als Landesverband der Grünen anerkannt zu werden. Sellin: "Weil die autonome Delegation kein Rederecht hatte, musste die Alternative Liste mit ihrem Rederecht aushelfen." So unterschiedlich beide Delegationen auch waren, eines verband sie: Sie kamen aus der Hochburg der alternativen Szene - aus Westberlin.
Anders waren die Berliner Grünen schon, als sie sich vor 30 Jahren zu ihrer Gründung trafen. Mehr als 3.000 Interessierte kamen am 5. Oktober 1978 in der Neuen Welt in der Neuköllner Hasenheide zusammen, um die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz aus der Taufe zu heben.
Doch die Gründung war umstritten. Der linke Anwalt Christian Ströbele, der zusammen mit seinem Kollegen Otto Schily in die Hasenheide gekommen war, warnte gar vor einer Übermacht der maoistischen KPD/AO. In seinen Notizen findet sich noch heute der nicht gerade schmeichelhafte Hinweis: "Die Geisteshaltung innerhalb der Liste ist teils konfus, politisch naiv, einsichtslos. Die K-Gruppen beherrschen die Szene." Ströbele zog die Konsequenzen - und trat nicht ein. Mitglied der Grünen wurde er erst, als er 1985 als Nachrücker der Berliner Landesliste in den Bundestag einzog.
Dass in der Hasenheide nicht gerade Aufbruchstimmung herrschte, weiß auch Micha Wendt. Der spätere Stadtrat in Neukölln und Tiergarten erinnert daran, dass nur 375 Anwesende die Beitrittserklärung unterschrieben. "Das vorherrschende Gefühl war Skepsis, und einige hatten bereits entschieden, einem solchen Projekt lieber fernzubleiben." Micha Wendt entschied sich für das Projekt. Seitdem wird er in der Verwaltung der Berliner Grünen mit der Mitgliedsnummer 1 geführt. Einige Spötter unkten schon damals, Wendt habe sich die "1" als Versammlungsleiter selbst zugeschustert.
Eingetreten in die neue Partei ist am 5. Oktober 1978 auch der Lehrer Peter Sellin - mit der Nummer 35. Von der Skepsis gegenüber den Maoisten ließ er sich nicht anstecken. "Ich kam aus der GEW und der Umweltbewegung und wollte dabei sein, wenn wir eine Alternative gründen. Für mich war das sehr wohl eine Aufbruchstimmung."
Sellin sollte recht behalten. Zwar versuchte die KPD/AO, in einer Kampfabstimmung über das Wahlprogramm die chinesischen Atomkraftwerke von der Forderung nach sofortiger Stilllegung auszunehmen - doch die Maoisten scheiterten. Nach ihrer Auflösung lebte das K-Gruppen-Erbe der Alternativen Liste vor allem als Folklore fort. Die Truppen der Linken standen in dem Ruf, organisatorische Probleme ohne große Diskussion schnell zu lösen. Wenn die Tontechnik bei einer Demo nicht funktionierte, erinnerte sich der Ex-KPD/AO-Chef und heutige taz-Redakteur Christian Semler, erschall sogleich der Ruf: "Stalinisten ans Mischpult!"
Als sich die KPD/AO 1980 auflöste, verblasste das Rot, die AL wurde bunter. Auf der Agenda stand nun nicht mehr die chinesische Kulturrevolution, sondern Westberliner Landespolitik. Unter dem Eindruck des Garski-Bauskandals organisierte die AL ein Volksbegehren zur Auflösung des SPD-Senats und forderte Neuwahlen. Mit Erfolg: Bei der Abgeordnetenhauswahl am 10. Mai 1981 zog die AL mit neun Abgeordneten erstmals ins Landesparlament - unter ihnen Peter Sellin. Sein Thema war fortan die Bildungspolitik.
Besonders blieb die AL dennoch. "Als Alternative Liste wollten wir auch eine Alternative zu den herrschenden Parteistrukturen sein", sagt Sellin. Also brachte die AL eine neue politische Kultur in die Parlamente - Rotation, Trennung von Amt und Mandat, Frauenquote. Für Sellin war klar, dass er nach der Hälfte der Legislaturperiode wieder aus dem Abgeordnetenhaus ausscheiden würde. "Solche Regeln", sagt er, "finde ich zum Teil noch heute richtig." Nicht um Personen sei es damals gegangen, sondern um Überzeugungen. "Dazu zählte auch die Teilung der Macht."
Während im Bundestag mit Petra Kelly und Gert Bastian die ersten grünen Helden geboren wurden, kämpfte die Westberliner AL noch aufseiten der Hausbesetzer. Konflikte blieben da nicht aus. Beharrlich weigerten sich die Berliner, ihren Namen zu opfern. Erst 1993, da war die Mauer schon vier Jahre gefallen, wurde aus der Alternativen Liste auch dem Namen nach der Landesverband der grünen Partei.
Nicht zu vergleichen mit den westdeutschen Landesverbänden war bis 1989 auch die Wahl der Bundestagsabgeordneten aus Westberlin. Wegen des besonderen Status der drei Westsektoren wurden diese nicht direkt gewählt, sondern von ihren Landesverbänden delegiert.
Nach einem erbitterten Kampf um die vier grünen Plätze zog 1987 auch Peter Sellin als Bundestagsabgeordneter von der Spree an den Rhein - und erlebte eine zutiefst zerrissene Partei. "Die Gretchenfrage für mich damals war: Wähle ich Otto Schily zum Fraktionsvorsitzenden oder Thomas Ebermann?" Der eine endete später als Rechtsaußen der SPD und Bundesinnenminister, der andere in linken Splittergruppen.
Die Gretchenfrage in Berlin war zuvor eine andere gewesen. Sollte Christian Ströbele, der Skeptiker von 1978, seine Arbeit im Bundestag fortsetzen? Oder sollte die Rotation Bestand haben und den Einzug von "Basiskarrieristen" ermöglichen, wie Klaus Hartung in der taz damals ätzte. Die Basis gewann, von der Rotation ausgenommen hat sich Ströbele erst später, als Direktkandidat der Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg.
Der Konflikt zwischen Realos und Fundis, den Peter Sellin in Bonn erlebte, war der AL als traditionell linkem Landesverband bis dahin erspart geblieben. Dennoch erlebte Peter Sellin die Geschichte der AL, die 1991 selbst nach der Fusion der Westgrünen mit dem Bündnis 90 auf ihrer Eigenständigkeit beharrte, als "Häutungsprozess".
"Auf der einen Seite sind wir eine etablierte Partei geworden und in vielem professioneller als damals. Doch die Kreativität ist dabei nicht selten verloren gegangen", sagt Sellin, der heute als Mitarbeiter bei der grünen Bundestagsabgeordneten Christine Scheel arbeitet. Ein bisschen wünscht sich Sellin deshalb nach 30 Jahren den Gründungsgeist zurück. "Mit dem Klimawandel und den neuen Formen der Bürgerbeteiligung ist sogar der alte Name wieder aktuell", findet er.
In Spandau dagegen ist der neuen Name Bündnis 90/Die Grünen nie angekommen. Bis heute nennen sich die Spandauer Grünen Alternative Liste. Warum, erklärt die Kreisvorsitzende Angelika Höhne so: "Als Liste stehen wir für Basisdemokratie und die Verantwortung aller. Als Partei stünden wir für die Aufgabe unserer Utopien."
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