25.000 Fans bei Musikfestival Melt: Bis die Ohrläppchen vibrieren
Beim Melt!-Festival feierten 25.000 Besucher in einem stillgelegten Braunkohlerevier trotz Sturm und Regen zu Electropop, Indierock und Werbung.
![](https://taz.de/picture/345063/14/15092573.jpg)
Ziemlich zerstört kommen drei junge Schweden am Samstagvormittag aus ihrem Zelt gekrochen. Tiefe Augenringe zeugen von Schlafmangel, und die Frisur ist ihnen völlig abhandengekommen. Macht nichts, Bier auf, und weiter gehts. "Das ist unser erstes Festival im Ausland. Unglaublich, was für tolle Bands hier spielen und wie genial diese Location mit den bunt beleuchteten Baggern ist", erzählt der 18-jährige Jisper. Das Trio ist in die sachsen-anhaltische Provinz gekommen, um Animal Collective, Bloc Party und Oasis zu sehen. "In Schweden gibt es so eine Ansammlung von tollen Bands nicht, also mussten wir uns auf die Reise machen", so Jisper.
Das Publikum des im stillgelegten Braunkohletagebau "Ferropolis" nördlich von Leipzig stattfindenden Melt!-Festivals wird immer internationaler. Fast ein Drittel der rund 25.000 Besucher kamen bei der zwölften Auflage aus dem Ausland. Auf sechs Bühnen spielten über 100 Künstler: Elektro meets Gitarrensound - das alles von absoluten Newcomern bis hin zu alteingesessenen Größen des Musikbusiness.
Das Subkultur-Biotop
Die Verschmelzung der Stile ließ sich auch am Publikum erkennen. Vom klassischen Indiefan mit enger Jeans und weit ausgeschnittenen T-Shirt bis hin zum Technofreak in rosa Turnhose und grellgrüner Plastejacke war das ganze Subkultur-Biotop vertreten. Sehen und gesehen werden, besonders der zwei Kilometer lange Weg vom Zeltplatz Richtung Festivalgelände wirkte wie ein Catwalk der Eitelkeiten. Wer Braun oder Grau trug, fiel auf in dem farbigen Meer der Extravaganz. Auch in diesem Jahr waren bunte Sonnenbrillen ein Must, aber auch knallige Gummistiefel wurden wie Orden vorgeführt. Man ging in Leggins und trug Klapsbänder in den Haaren.
Erstes Highlight am Freitagabend waren die norwegischen Elektroveteranen von Röyksopp, die mit Songs ihres neuen, etwas partytauglicheren Albums "Junior" und alten Hits wie "Poor Leno" oder "Remind me" für Jubelschreie und wilde Tanzorgien vor der völlig überfüllten Mainstage sorgten.
Weniger euphorisch war die Stimmung etwas später im "Soundwave Tent": Das aktuell gehypte britische Elektropop-Duo La Roux lieferte eine solide Show ab. So richtig sprang der Funke aber nicht auf das schwitzende Publikum über. Die Synthpop-Songs, aber auch Sängerin Elly Jackson in - was sonst - roten Leggins und mit roter Haartolle ließen Erinnerungen an die 80er aufkommen.
Ja und dann funkte der Regen dazwischen, begleitet von heftigen Sturmböen. Während sich viele unters Dach der Gemini Stage flüchteten, tanzten einige gegen den Wettergott an. "Ist das alles?", schrie ein ekstatisch hüpfendes Mädchen gen Himmel und riss die Arme in die Luft. Gegen fünf Uhr morgens ließen die Veranstalter das Gelände räumen, Auftritte von Moderat und Trentemøller wurden abgesagt. "Stromausfälle und die Wassermassen ließen keine andere Wahl", sagte später Stefan Lehmkuhl, künstlerischer Leiter des Festivals. Die Stimmung blieb trotzdem ausgelassen. Überall traf man auf leicht verwirrte Personen, stolperte über nasse Schlafsäcke und weggewehte Zelte.
Nach einer kalten, kurzen Nacht, in der einige ihr Zelt von innen festhielten, um es am Wegfliegen zu hindern, begann auch der Samstag regnerisch. Mit Sonnenbrillen versuchte man, die Spuren des Abends zu verbergen, mit Bier oder anderen Substanzen sich auf den Abend vorzubereiten.
Hypnotisierende Visuals
Der begann mit dem US-amerikanischen Quartett Animal Collective, das kaum bestimmbare, experimentelle Sounds über die Mainstage jagte, die die Ohrläppchen zum Vibrieren brachten. Hypnotisierende Visuals versetzten das Publikum in kollektive Trance. Während Oasis und Bloc Party als Headliner die Masse wie gewohnt begeisterten, sorgten nachts die Berliner Trashpunker von Bonaparte für Zirkusatmosphäre im Soundwave Tent. Bis zu zehn Künstler, als Hasen und Astronauten verkleidet oder einfach halbnackt hüpfend, feierten sich selbst, das Publikum dankte es mit wilden Hüpforgien.
Bis in den Morgen tanzten die Hartgesottenen dann zu den Sets der Berliner Techno-DJs Ellen Alien und Boys Noize. Auf der Tanzfläche dominierten starre Blicke und Menschen mit verdrogtem Gesichtsausdruck.
Melt-Organisator Stephan Lehmkuhl zog ein positives Fazit: "Tolles und gutaussehendes Publikum, kaum Beschwerden und grandiose Acts", sagte er. Und tatsächlich: Die Macher haben aus manchen Fehlern des letzten Jahres gelernt. Es gab mehr Shuttlebusse und keine Schlangen bei der Bändchenausgabe. Dass die Besucher noch immer von Werbebotschaften erschlagen werden, nimmt man als notwendiges Übel gern in Kauf.
Auch die Schweden waren begeistert. "Wir kommen wieder, egal, wie das Wetter wird", sagte Jisper bei der Verabschiedung.
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