"24 h Berlin" in Tokio: Lost im Leben
"24 h Berlin", das ambitionierte Fernsehprojekt über einen kompletten Tag in Berlin, hat unser Autor in Tokio gesehen. Am Ende fühlte er sich wie Bill Murray in "Lost in Translation".
Als Berlin sich auf dem Laptopdisplay allmählich ausgehfertig macht, gehen wir hier in Tokio schlafen. Der Zeitunterschied zwischen der deutschen und der japanischen Hauptstadt beträgt sieben Stunden. Die gefühlte Differenz ist ungleich größer.
Sogar an diesem Samstag, als einem der RBB und Arte einen kompletten Tag Berliner Heimat in den 26. Stock meines Hotels liefern. Dutzende Protagonisten waren am 5. September des vergangenen Jahres durch Mitte, Schöneberg, Pankow und wie die Bezirke nicht alle heißen begleitet worden. Zwölf Monate später schaue ich auf einen Tag im Leben von Taxifahrern, Hospizbewohnerinnen, Fernsehkorrespondenten, Politikern und Restaurantbesitzern. Parallel zu den Ereignissen von damals, von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr morgens - nur dass ich nicht so lange durchhalte.
Dabei wollte ich eigentlich schon nach den vier Gin Tonics im lächerlich kleinen fensterlosen "Beat Café" mit dem langsamsten Barmann Tokios wieder zurück ins Hotel - ab vor den Laptop meines Bruders, weiter "24 h Berlin" gucken.
Doch wir waren noch Karaoke singen, in Shibuya, wo auch Bill Murray und Scarlett Johansson in "Lost in Translation" rumträllern. Das einzige deutsche Lied in der Karaokemaschine ist "99 Luftballons", Franzosen und Kanadier nötigen uns auf die Bühne: Wir singen schrecklich schief und schrecklich laut, schlimmer als Nena.
Es war die alte Entscheidung zwischen Leben und Fernsehen, die ich nach den vier Gin Tonics traf. Das Leben hat mal wieder gewonnen.
Obwohl wir nachmittags schon sechs Stunden "24 h Berlin" geschafft hatten. Wir guckten uns in einen Rausch, wollten unbedingt wissen, wie es mit dem neunmalklugen Hardy Wischmeyer und seinem Abschleppwagen weitergeht oder mit dem süßen älteren Spätaussiedlerehepaar aus Marzahn, das aus der Bibel Deutsch gelernt hat. Zwischendurch reißen wir uns nur mal kurz vom Sog der Erzählung los, von all den Protagonisten und Schauplätzen, aber nur um einen Kaffee zu trinken und eine Nudelsuppe zu essen. Dann setzen wir uns ohne Umwege gleich wieder vor den Rechner. Das Leben der anderen zu beobachten übt eben nicht nur auf Geheimdienste und Rentner mit Blümchenkissen unter den Ellenbogen einen ungeheuren Reiz aus.
Zunächst haben wir allerdings ein bisschen gefremdelt, denn in Tokio war der Live-Stream von "24 h Berlin" nur in der englischen Version zu empfangen (Und streng genommen war es auch nicht wirklich ein Livestream, sondern nacheinander abrufbare Stundenpakete, was die Idee der Simultanität von Aufnahme- und Sendezeit ad absurdum führt). Es ist unsere Stadt, Reichstag, Europa-Center, Hackescher Markt, alles da, doch der britische Off-Sprecher ist ihrer Sprache nicht mächtig, kann weder "Halensee" aussprechen noch "Hohenzollerndamm", geschweige denn "Ruhleben". Offenbar haben die "24 h Berlin"-Verantwortlichen bei diesem Stream nur an ein ausländisches Publikum gedacht und so die Chance vergeben, alternativ auch einen deutschen Stream fürs Ausland anzubieten, ein Medikament gegen Heimweh für die Berliner in aller Welt, in dem die Schrippe Schrippe heißt und nicht etwa bread roll - wo kommen wir denn da hin!
Morgens um sechs auf dem Hotelzimmer habe ich übrigens gleich wieder den Computer angeschmissen. Ich bekomme gerade noch mit, wie eine Clique zum Feiern in den Kreuzberger "Cake Club" geht, von dem ich noch nie etwas gehört habe. Dann schlafe ich ein - die Fuselmischgetränke.
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