200. Todestag des Marquis de Sade: Die bizarren Neigungen der Natur
Vor 200 Jahren starb der Marquis de Sade. Sein Wunsch, aus dem Gedächtnis der Menschen getilgt zu werden, ging nicht in Erfüllung.
„Sobald das Grab zugeschaufelt ist, sollen Eicheln darüber gesät werden, damit in der Folge die Stelle besagten Grabes wieder bewachsen und das Gehölz wieder so dicht sei wie vordem und die Spur meiner Grabstätte von der Erdoberfläche verschwinde, so wie hoffentlich mein Andenken in der Erinnerung der Menschen gelöscht wird.“
Mit diesem bitteren Wunsch endet das Testament von Donatien-Alphonse-François, Marquis de Sade, das er sieben Jahre Jahre vor seinem Tod aufsetzte. Es hat ihm wenig genützt. Nicht nur ist er dem Gedächtnis der Menschen mit seinen Werken erhalten geblieben, sein Name lebt überdies im Begriff des Sadismus in der Alltagssprache fort.
Als de Sade am 2. Dezember 1814 starb, wurde er allerdings nicht, wie er verfügt hatte, auf dem Grundstück seines Anwesens Malmaison begraben, sondern auf dem Friedhof in Charenton, wo er seine letzten Lebensjahre – trotz geistiger Gesundheit – in einer Irrenanstalt zubrachte. Zuvor hatte er schon von 1778 bis 1790 in der Festung Vincennes und in der Bastille einsitzen müssen.
Bis in die Nachkriegszeit verboten
Ursula Pia Jauch (Hg.): „Sade. Stationen einer Rezeption“. Suhrkamp, Berlin 2014, 469 S., 20 Euro.
Weggesperrt blieb zunächst auch sein schriftstellerisches Werk, das zu großen Teilen während der Haft entstanden ist. Noch 1963 wurde in Deutschland de Sades „Die Philosophie im Boudoir“ indiziert. In Frankreich war de Sade ebenfalls bis in die Nachkriegszeit verboten. Zum Skandal taugten seine Bücher allemal, wurden darin doch die größten physischen Grausamkeiten, die Menschen einander zufügen können, in systematischer Gründlichkeit geschildert.
Vor allem aber wimmelt es in den Romanen de Sades von Libertins, die extreme sexuelle Bedürfnisse ausleben, sich dem Bösen aus Prinzip verschrieben haben und ihre Verbrechen mit größter Eloquenz und philosophischem Scharfsinn rechtfertigen.
Was wollte de Sade? Das ist nicht einfach zu beantworten, da seine Leser in „Die 120 Tage von Sodom“ oder im Doppelroman „Justine und Juliette“ mit der Frage alleingelassen werden, ob sich ihr Verfasser mit den Positionen seiner Figuren identifiziert oder nicht. So verwundert es kaum, dass sich die Reaktionen auf de Sade von damals bis heute stark verändert haben. Nachvollziehen kann man diese Entwicklung schlaglichtartig im Sammelband „Sade. Stationen einer Rezeption“, den die Schweizer Philosophin Ursula Pia Jauch herausgegeben hat.
Angehöriger des Ancien Régime
De Sade war ein – ambivalenter – Augenzeuge der Französischen Revolution. Als Angehöriger des Ancien Régime, das er persönlich verachtete, auf dessen Privilegien er aber nur ungern verzichtete, wäre er um ein Haar selbst auf dem Schafott gelandet. Stattdessen erlebte er die Revolutionsjahre weitgehend als freier „Bürger“ und bekleidete für kurze Zeit Ämter wie das eines Richters oder des Sekretärs der jakobinischen „Piken-Sektion“. Offiziell unterstützte er die Ziele der Revolution, die massenhaften Exekutionen lehnte er insgeheim jedoch ab.
Die Gewaltorgien in de Sades anonym publizierten Romanen lasen sich für einige seiner Zeitgenossen denn auch als Kritik am Revolutionsterror. Der deutsche Schriftsteller Ludwig Ferdinand Huber mutmaßte 1796 in seiner Rezension zu „Justine“ gar, der Verfasser stehe dem „geheimen Kabinet des Herzogs von Orleans“ nahe und das Buch sei dazu bestimmt, „das böse Princip der Revolution zu nähren“.
Weniger konspirativ erscheint das Verhältnis de Sades zur Revolution in den Augen des französischen Autors Pierre Klossowski. Dessen Buch „Sade – mein Nächster“ von 1947 – auf Deutsch erst 1996 erschienen – umkreist de Sades Denken aus philosophischer, psychoanalytischer und theologischer Perspektive. In Jauchs Band findet sich daraus das Kapitel „Sade und die Revolution“, in dem Klossowski zu zeigen versucht, dass de Sades Rechtfertigung des Atheismus – und der mit ihm entfesselten Gewalt – auf eine indirekte Anerkennung Gottes hinausläuft.
Literarische Monstrositäten
So bestimme das „theokratische Prinzip“ die Terminologie de Sades, ferner seien seine literarischen Monstrositäten ein Ausdruck von Sühne: „Sade machte die virtuelle Kriminalität seiner Zeitgenossen zu seinem persönlichen Schicksal, er allein wollte sie im Ausmaß der Kollektivschuld sühnen, die sein Bewußtsein auf sich genommen hatte.“
Diese Einlassung forderte Widerspruch heraus. In ihrem Buch „Soll man de Sade verbrennen?“ von 1955 entgegnete die existenzialistische Philosophin Simone de Beauvoir: „So interessant Klossowskis Studie auch sein mag, so begeht doch meines Erachtens der Autor an Sade Verrat, wenn er behauptet, seine leidenschaftliche Ablehnung Gottes sei das Eingeständnis einer Sehnsucht nach Gott.“
De Sade habe sich in dieser Sache eindeutig geäußert: „ ’Die Gottesidee ist das einzige Unrecht, das ich den Menschen nicht verzeihen kann.‘ “ De Sades atheistische „Ethik“ sieht de Beauvoir vielmehr in den Worten zusammengefasst: „ ’In einer verbrecherischen Gesellschaft muß man ein Verbrecher sein.‘ “
Eine beachtliche Zahl von aktenkundigen Sexualvergehen
Völlig anders als in Frankreich verlief die Rezeption de Sades in Deutschland, wo der Psychiater Richard von Krafft-Ebing etwa in seiner „Psychopathia sexualis“ von 1886 den Begriff des Sadismus prägte. Unter diesem Stichwort versammelte er eine beachtliche Zahl von aktenkundigen Sexualvergehen. De Sade selbst erwähnt er lediglich als „psychosexuales Monstrum“.
Der deutsche Sexualwissenschaftler Ivan Bloch hingegen würdigt de Sade 1900 als einen Autor, dem das Verdienst gebühre, „fast alle sexualpathologischen Typen, die es giebt, in seinen Romanen zusammengestellt zu haben“. Bloch, der seine Untersuchung zu de Sade unter dem Pseudonym Eugen Dühren veröffentlichte – und die erste Buchfassung der „120 Tage von Sodom“ überhaupt herausbrachte –, bleibt dabei ganz nüchterner Wissenschaftler. Für ihn lautet die wichtigste Frage: „War der Marquis de Sade geisteskrank oder nicht?“ Bloch verneint nach ausgiebiger Prüfung.
Aufseiten der Bewunderer prophezeite der französische Lyriker Guillaume Apollinaire im Jahr 1909, dass der „göttliche Marquis“, „der während des ganzen 19. Jahrhunderts für nichts erachtet wurde, sehr wohl das 20. beherrschen könnte.“ Tatsächlich entfaltete die De-Sade-Rezeption erst nach 1945 ihre volle Blüte. Wobei selbst die glühendsten Verehrer mitunter nicht frei von Ambivalenz sind.
Die amoralische Welt de Sades als Sprungbrett
Georges Bataille raunte 1948 zwar, „derjenige ist noch nicht gefunden, der die ’120 Tage von Sodom‘ lesen und in ihnen die Welt erkennen kann, die er wollte und für die er entschlossen Stellung bezieht“, doch muss man bei diesem bedrohlich anmutenden Tonfall stets berücksichtigen, dass Bataille einer der vielen französischen Leser de Sades war, die in ihrem Denken stark vom Katholizismus geprägt wurden und für die die amoralische Welt de Sades als Sprungbrett diente, um sich von der eigenen Gottesfürchtigkeit loszusagen.
Was bleibt von de Sades entzündlichen Gedanken an Reibungspotenzial? Eine „Summa der pornographischen Phantasie“, wie Susan Sontag 1967 urteilte? Oder die Einsicht, dass einerseits Gewalt und Sexualität in enger Beziehung zueinander stehen, andererseits aber Gewalt und Atheismus überhaupt keine notwendige Verbindung miteinander eingehen? Die schlimmste Gewalt, predigen de Sades Helden, wird im Namen von Religion oder Wohlanständigkeit verübt. An der Aktualität dieser Einschätzung hat sich leider bis heute wenig geändert.
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