20. Jahrestag der Maueröffnung: Die Geschichte weitergeben
Berlin feiert den 20. Jahrestag der Maueröffnung als Event. Doch auch die Erinnerung an die Reichspogromnacht von 1938 ist dabei präsent.
![](https://taz.de/picture/331721/14/16273933.jpg)
Die Geschichte beginnt mit Ernst Cramer. Der Publizist spricht beim Auftakt der Feierlichkeiten am 20. Jahrestag des Mauerfalls. In der Kapelle der Versöhnung, die auf dem einstigen Mauerstreifen in Berlin errichtet wurde, spricht der 96-Jährige von seinen Erinnerungen an den 9. November 1989, an "das Wunder der deutschen Geschichte" - und zugleich an den 9. November 1938: "Ich kann mich noch erinnern, wie die Nazis das Cello meines Vaters zerstört haben."
Cramer gibt den Spannungsbogen für den Jahrestag vor. Seine Eltern wurden von den Nazis ermordet. Er selbst war später lange Zeit Chefredakteur der Welt. Als die Mauer fiel, war er 76 Jahre alt. Er kann ein Jahrhundert überblicken und weiß, dass die Dinge zusammengehören. Um dieses Wissen geht es am Jahrestag. Die meisten Protagonisten sind noch da. Doch längst ist eine jüngere Generation nachgewachsen, die die Mauer nur noch vom Hörensagen kennt.
"Wir müssen den jungen Leuten zeigen, dass Demokratie erarbeitet werden kann", sagt wenig später Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) ein paar hundert Meter weiter bei der Eröffnung eines neuen Besucherzentrums der Gedenkstätte Berliner Mauer. Aus dessen Fenstern hat man den Todesstreifen im Blick, der einst die Stadtteile Wedding und Mitte trennte. Vor ein paar Tagen wurden erste rostfarbene Eisenstelen entlang der Straße aufgestellt. Sie sollen den Verlauf der Mauer nachvollziehbar machen. Zwischen den auf gerade einmal hundert Metern verbliebenen Resten der Originalmauer wurde Ende voriger Woche ein Wachturm wiedererrichtet.
Der Ausbau der Gedenkstätte ist Ausdruck eines Meinungswandels. Anfang der Neunzigerjahre wurde die einst 155 Kilometer lange Mauer fast komplett abgerissen. Heute wird sie als mahnendes Anschauungsmaterial vermisst. Auch deshalb wird in diesem Jahr das Gedenken so ausufernd inszeniert - und gefeiert. Am Brandenburger Tor waren am Wochenende rund tausend übergroße, von Schulklassen bunt bemalte Dominosteine zu bewundern, die auf dem großem Fest am Abend gekippt werden sollten. Der Mauerfall als Event, das nicht nur Deutsche begeistert. Ohne Scheu vor dem kaum vermeidlichen Pathos kommen Besucher aus aller Welt.
"Der Mauerfall", sagt etwa Muhammad Yunus, Friedensnobelpreisträger aus Bangladesh, bei einer Presskonferenz am Mittag, "war für die gesamte Menschheit wichtig." Denn er zeige, dass alle Mauern eingerissen werden könnten, auch die der Armut.
Dazu gehört auch der Besuch des einstigen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, der am Nachmittag zusammen mit Angela Merkel die Brücke am ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße überquert, wo vor 20 Jahren der erste Schlagbaum hochging. Dieser Tag sei nicht nur ein Feiertag für die Deutschen, sondern für ganz Europa, sagt Merkel. Dafür bekommt "Angie", wie die gut tausend Zuschauer hier rufen, großen Applaus. Auch der Exbürgerrechtler Joachim Gauck erntet Jubel für seine Bemerkung, der Ruf "Wir sind das Volk" erinnere ihn an "Yes we can". Der größte Star des Tages aber ist der Star von damals: "Gorbi".
Zu den Gratulanten gehört auch die holländische Band Noir. Die hat sich am Montagmorgen in Groningen in einen Bus gesetzt und ist mit über hundert Gitarristen nach Berlin gefahren, nur um eine halbe Stunde lang im Mauerpark "The Berlin Wall of Sound" zu präsentieren - ein eigens komponiertes Instrumentalstück. "Der Mauerfall war ein starkes Symbol für die Freiheit, und Freiheit ist das Gegenteil von Stille", erklärt der 24-jährige Douwe Dijkstra sein Projekt.
Die Geschichte endet mit Murat. "Mauerspecht" steht auf dem Schild, das dem Viertklässler vor dem Bauch baumelt. Aus seinem Kassettenrekorder sind Hammerschläge zu hören, so wie damals, als sich viele ein Stück aus der Mauer herausklopften. Murat hat kein Problem, sich vorzustellen, wie das war mit der die Stadt teilenden Mauer. "Die siehst du doch", sagt er und klopft auf das Mauerstück, das an der Bernauer Straße noch steht. Murat hat einen guten Zugang zur Geschichte. Seine Klassenlehrerin Sabine Gorecki kann über den Mauerfall aus eigener Erfahrung erzählen. Sie hat die Viertklässler der nahe gelegenen Gustav-Falke-Schule für die Klanginstallation begeistert. Die Schule wurde gerade republikweit bekannt, weil sie versucht, eine neu gewachsene Mauer an der Bernauer Straße einzureißen: Mit einer "Deutsch-Klasse" will sie für Eltern attraktiv werden, die in den schick sanierten Altbauten Ostberlins leben und um die Zukunft ihrer Kinder fürchten, wenn diese mit Migrantenkindern in eine Schule gehen.
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