20 Jahre Mauerfall: Das erste Beben
Die Besetzung der Ständigen Vertretung der BRD in Berlin im August 1989 war der erste Höhepunkt der Ausreisewelle. Die DDR-Regierung merkte erst jetzt, wie groß der innenpolitische Druck war.
Nichts weiter als ein leerer Laden. Zwei Stufen hinauf, eine Glasfront, die Türen verschlossen. Man muss schon sein Gesicht an die Scheiben drücken, um aus dem vermeintlichen Geschäft in die Geschichte einzutauchen. Gelbe, tellergroße Griffe erscheinen in braunen Türrahmen, umweht vom Flair der 70er, Steinplatten, dunkle Gänge mit Spiegelglas. An der rechten Wand hängt eine Bronzetafel mit einer Inschrift: "Von 1974 bis zur Vereinigung am 3. Oktober 1990 befand sich in diesem Hause die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR". Nichts weiter.
Schwer vorzustellen: dieses unscheinbare graue Haus in der Hannoverschen Straße, Nummer 30, soll im August 1989 geborsten sein vor Menschen, die rauswollten aus dem Land? Hier also soll der erste Dammbruch in Ostberlin stattgefunden haben, die erste Flutwelle Richtung Westen, wie sie auch in die Botschaft in Budapest schwappte, später in Prag, und die schließlich die Berliner Mauer mit sich riss?
Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin war für DDR-Bürger so etwas wie der letzte Fluchtpunkt auf Staatsgebiet. Die, die rübermachen wollten, suchten Hilfe in dem Haus, wenn der Ausreiseantrag sich hinschleppte und Anwälte eingeschaltet werden sollten, hier gab es Treffen zwischen Diplomaten, Korrespondenten und DDR-Oppositionellen, hier verhandelten Ost und West Reiseerleichterungen und selbst über einen Hochgeschwindigkeitszug zwischen Westberlin und Hannover.
1. August 1989, Ostberlin: Das ZK der SED legt einen Entwurf vor, die Bekämpfung "feindlicher, oppositioneller Zusammenschlüsse" zu verschärfen. Darunter fallen auch Heavy-Metal-Musikgruppen.
5. August, Ostberlin: Die DDR-Regierung gibt im Fernsehen das Flüchtlingsproblem zu.
8. August, Ostberlin: Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin, die von rund 130 DDR-Bürgern besetzt ist, wird geschlossen. Es folgen die Schließungen der Botschaften in Budapest und Prag, in denen sich 171 bzw. 140 Fluchtwillige aufhalten. Kanzleramtsminister Rudolf Seiters appelliert an DDR-Bürger, nicht den Weg über diplomatische Vertretungen der Bundesrepublik zu gehen.
9. August, Berlin: Bärbel Bohley, Bürgerrechtlerin der "Initiative Frieden und Menschenrechte", fordert im taz-Interview Reisefreiheit für die DDR-Bürger.
14. August, Erfurt: Bei der Übergabe des 32-Bit-Mikroprozessors im Erfurter Kombinat Mikroelektronik erklärt Erich Honecker: "Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf."
19. August, Budapest/Wien: Das Demokratische Forum und weitere Oppositionsgruppen in Ungarn rufen zu einem "paneuropäischen Picknick" an der ungarisch-österreichische Grenze auf. Mehr als 600 DDR-Bürger stürmen durch ein nur angelehntes Grenztor nach Österreich.
21. August, Prag: Bei Demos in Prag anlässlich des 21. Jahrestages der Niederschlagung des Prager Frühlings werden hunderte Menschen verhaftet.
22. August, Wien: Ein DDR-Bürger wird bei einem Fluchtversuch von einem ungarischen Grenzposten erschossen.
24. August, Bonn, Warschau: DDR-Bürger aus der Budapester Botschaft werden in die Bundesrepublik ausgeflogen. In Polen wird Solidarnosc-Mitbegründer Tadeusz Mazowiecki zum ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten gewählt.
25. August, Bonn: In Bonn kommen der ungarische Außenminister Gyula Horn mit Kanzler Helmut Kohl zu einem Geheimtreffen auf Schloss Gymnich zusammen. Der Ungar eröffnet das Gespräch mit den Worten: "Herr Bundeskanzler, Ungarn hat sich entschieden, den DDR-Bürgern die freie Ausreise zu erlauben. Wir haben uns dazu vor allem aus humanitären Gründen entschieden." Kohl verspricht im Gegenzug Kredite über 500 Millionen DM.
26. August, Ostberlin: Eine Gruppe, zu der Martin Gutzeit, Markus Meckel, Arndt Noack und Ibrahim Böhme gehören, ruft zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei auf.
29. August, Ostberlin: Auf einer SED-Politbüro-Sitzung herrscht Ratlosigkeit, wie mit der Flüchtlingskrise umgegangen werden soll. Günter Mittag führt aus: "Ich möchte auch manchmal den Fernseher zerschlagen, aber das nützt ja nichts."
31. August, Ostberlin: Der ungarische Außenminister Horn kündigt in Ostberlin an, dass Ungarn alle DDR-Flüchtlinge im September ausreisen lassen wird. Der DDR-Ministerrat reagiert entsetzt. ROLA
Entstanden ist das diplomatische Amt der StäV als Folge des Grundlagenvertrags von 1972, um die Beziehungen zwischen beiden Ländern auszubauen. Da die Bundesrepublik den anderen deutschen Staat nicht als Ausland anerkannte, errichteten beide Länder, wenn schon keine Botschaften, so doch Ständige Vertretungen. Die in Bonn stieß auf wenig Interesse; die DDR-Repräsentanz mit ihrem Amtsleiter, der sogar den Botschafterstatus innehatte, war den Westdeutschen reichlich egal. Außer vielleicht manchem DKP-Anhänger.
Die StäV in Ostberlin hingegen quillte regelmäßig über. 1984 zum Beispiel, als es eine erste Ausreisewelle gab, die Anwälte mit der Bearbeitung der Anträge nicht mehr hinterherkamen und die Vertretung vorübergehend geschlossen werden musste. 1989 aber war die Situation für die StäV noch unerträglicher. Von allein 1.000 Fällen im ersten Halbjahr berichtete später Franz Bertele, der letzte Ständige Vertreter. Allein bis Juli 1989 hatten schon 30.000 Menschen ihrem Land den Rücken gekehrt, so viele wie insgesamt in den vergangenen zwei Jahren zuvor. Wenige Wochen später war die Zahl bereits auf 60.000 gestiegen. Letztlich waren es diese Menschen, die den Ereignissen eine Dynamik gaben, die die Oppositionsbewegung - sei es Friedens- oder Ökogruppe - nie erreichen konnte.
Bertele brach seinen Urlaub ab, als er erfuhr, dass die Ständige Vertretung in seiner Abwesenheit am 8. August wegen Überfüllung geschlossen worden war. So verbrachte er seine Ferien statt in Mittelnorwegen in der Hannoverschen Straße mit seinen "Gästen", wie er sie nannte. "Noch fast idyllisch" seien die Zustände gewesen - im Vergleich zur Besetzung der Botschaft in Budapest.
Es war das Berliner Sommercamp der 89er Art: 130 DDR-Bürger zusammen in der Ständigen Vertretung - von der Krankenschwester über den Handwerker zu Ingenieuren, Ärzten, Pädagogen, Schülern, einer Tänzerin. Für sie errichtete das Diplomatische Korps Schlafplätze und Duschen, kaufte Kleider und Wäsche. Selbst um die Freizeitgestaltung kümmerten sich Berteles Mitarbeiter, sie wollten die "Zuflüchtigen" fortbilden - mit Fremdsprachenkursen oder Skatunterricht.
Auch versuchte man sich zum ersten Mal in Ost-West-Küche: Unter den Noch-DDR-Bürgern gab es einen Koch, der für die Gruppe den Speiseplan mit aufstellte; besorgt wurden die Lebensmittel dann in Westberlin. Mitgegessen hat selbstverständlich auch ein Spitzel der Stasi.
Gut einen Monat dauerte es, bis der Anwalt Wolfgang Vogel den Fluchtwilligen ein Angebot der DDR-Regierung unterbreitete. Alle sollten die StäV freiwillig verlassen, hieß es darin, an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, dafür wurden ihnen Straffreiheit und baldige Ausreise zugesichert. Das Angebot nahmen alle an; viele durften noch vor dem Mauerfall die DDR verlassen.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: Die StäV blieb bis auf Weiteres geschlossen - wegen Reparaturmaßnahmen. Bertele: "Einen Monat lang über 100 Menschen auf engstem Raum beherbergt zu haben hatte in unseren Räumlichkeiten sichtbare Spuren hinterlassen, die zunächst einmal beseitigt werden mussten." Der Ständige Vertreter war in den nächsten Wochen viel unterwegs: in Prag, in Warschau und im ersten Sonderzug, der die Botschaftsflüchtlinge direkt auf Bundesgebiet bringen sollte.
Geöffnet hat Bertele die Ständige Vertretung wieder am 10. November 1989 - einen Tag nach dem Mauerfall. Doch da achtete kaum einer mehr darauf.
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