■ 1937 wurden 2.895 spanische Kinder vor den Franco-Truppen ins sowjetische Exil geschickt. Einige der früheren „Kriegskinder“ sind zurückgekehrt Von Reiner Wandler: In der zweiten Emigration
Im heutigen Spanien sind die alten Kriegskinder nun Rentner unter vielen. Bis jetzt wohnen sie in einem Altersheim vor den Toren Madrids zusammen. Nun sollen sie gegen ihren Willen getrennt und in den spanischen Regionen untergebracht werden, aus denen sie stammten – und die sie nicht mehr kennen.
Es mutet seltsam an, wie sich die Gruppe von Alten vorstellt. Sie sind Rentner. Alle über 70 Jahre alt. Und doch sagen sie: „Wir sind die Kriegskinder.“ Niemand aus dieser Gruppe nimmt sich von diesem Satz aus. Sie haben gemeinsame Lebensgeschichte. Fast täglich treffen sie sich auf der Terrasse des Gemeindezentrums in Alalpardo, einem nur tausend Einwohner zählenden Dorf vor den Toren Madrids.
Nichts hat ihr Leben so geprägt wie jener Tag im Jahre 1937, als die demokratische Regierung der Spanischen Republik beschloß, 2.895 Landeskinder in die Sowjetunion zu schicken, um sie vor den vom späteren Diktator Francisco Franco ausgelösten Bürgerkrieg zu bewahren.
Luis Lavin, wie Andrés Rodriguez und Dolores Bilbao damals 12 Jahre, sowie Francisco Hernández, der bereits 13 Jahre alt war, befanden sich mit an Bord jenes Schiffes, das die Heranwachsenden in eine bessere Zukunft, in ein sicheres Land bringen sollte. Geschmückt mit der rot-gelb-lilafarbenen Trikolore der Spanischen Republik und Spruchbändern, auf denen antifaschistische Parolen zu lesen waren, ging es vom nordspanischen Atlantikhafen Bilbao gen Osten. Der Krieg dauerte länger als erwartet, und es gewann die falsche Seite. So saßen die Kriegskinder in der Sowjetunion fest. Viele ihrer Eltern waren gefallen oder vor den Soldaten Francos auf der Flucht. Aus den drei Monaten in der neuen Heimat wurde für sie fast ein ganzes Leben – in der Emigration.
Vor knapp fünf Jahren erreichte Lavin eine Einladung aus Spanien, auf die er lange hatte warten müssen. Eine staatlich alimentierte Stiftung hatte in Alalpardo eigens ein Altersheim unter dem Namen Retorno („Rückkehr“) errichtet.
Endlich hatte La Patria („das Vaterland“), wie Lavin sein Spanien nach 60 Jahren mit verklärter Stimme immer noch nennt, gerufen. Der stämmige, weißhaarige Alte nahm die freundliche Offerte dankend an. Er kam mit seiner russischen Frau Svetlana. Weitere 30 Kriegskinder folgten. Unter ihnen viele Freunde der Lavins. Andrés Rodriguez und Francisco Hernández kamen ebenfalls mit ihren russischen Ehefrauen. Dolores Bilbao kam als Witwe in ihr Geburtsland.
„Hier wohne ich mit Svetlana“, gewährt Lavin mit einer ausholenden Handbewegung Einlaß in seine Unterkunft im Retorno. Hätte er nicht jede freie Ecke mit Bücherregalen und Kisten zugestellt, würde das Zimmer mit großem Fenster und Balkon geräumig wirken. „Die habe ich alle aus Rußland mitgebracht“, sagt Lavin und zieht, als er dies sagt, einen schweren roten Band aus einem der Regale: „Die Geschichte der russischen Luftwaffe“ – die auch sein Leben meint.
Fotos, die er aus einem Umschlag hervorzieht, belegen: Lavin flog im Zweiten Weltkrieg Einsätze gegen Hitlers Truppen. Mit 15 Jahren trat er der Roten Armee bei, mit nur 20 hatte er die größte Katastrophe, die Europa in diesem Jahrhundert erlebte, bereits mit zurückgeschlagen. „1948 wurde ich dann aus der Armee zwangsentlassen. Stalin traute uns Spaniern nicht mehr“, beendet Lavin seine Erzählung. Dann öffnet er langsam, als wollte er die Spannung steigern, den in eine der Wände eingelassenen Kleiderschrank, zieht vorsichtig eine Uniform der sowjetischen Luftwaffe hervor und streicht die Plastikfolie, die sie gegen Staub und Motten schützen soll, liebevoll mit dem Handrücken glatt. Die Uniform ist über und über mit Orden bedeckt. In zwei kleinen Plastiktüten, die Lavin neben seiner Offiziersmütze aus der Hutablage nimmt, scheppert noch mehr Blech. „Minderwertige Auszeichnungen“, meint er beiläufig.
Warum sie nicht schon früher nach Spanien zurückkehrten, damals in den 50er Jahren nach der Amnestie, mit der die Franquisten versuchten, einen Schlußstrich unter die gesellschaftliche Kluft, aufgerissen durch den von ihr angezettelten Bürgerkrieg, zu ziehen? Die Fotos aus einem anderen Papierumschlag geben die Antwort: ein ernster Lavin an seinem Arbeitsplatz als Ingenieur in der Flugzeugfabrik in Saratov, einer Industriestadt an der Wolga; dann ein junger, glücklicher Lavin mit seiner späteren Frau Svetlana in einem Park; beide ausgelassen auf einem Fest bei Freunden; ein stolzer Lavin in Galauniform auf einem der alljährlichen Veteranentreffen der Roten Armee...
Er hatte, wie die anderen Kriegskinder auch, längst ein neues Leben, eine neue Heimat gefunden. Und die Kommunistische Partei Spaniens, die 1937 die Reise der Kinder hauptsächlich organisierte, tat alles, um sie in der Sowjetunion zu halten. Selbst im Moskauer Exil brauchten die Kommunisten den Mythos der Kriegskinder – die aus ihrem Vaterland flüchten mußten und nicht nach Hause können.
Eine offene Wunde, die nicht verheilen durfte, um den Geist der Republik gegen die Diktatur wachzuhalten. So lebten die Kriegskinder in der UdSSR wie in einer neuen Heimat – und bekamen gleichzeitig das Gefühl, eigentlich auf einer Transitstation zu warten, auf der der Zug nach Spanien irgendwann kommen wird. Um die Kriegskinder politisch bei Laune zu halten, wurden Treffen organisiert, Radioprogramme auf spanisch ausgestrahlt und Rundschreiben über die Lage der Diktatur in der spanischen Heimat versandt.
„Uns ging es in der Sowjetunion besser, als den meisten Menschen im Nachkriegsspanien“, ist sich Lavin bis heute sicher. Er und seine Frau hatten beide Arbeit. Als Ingenieur einer Fertigungsabteilung arbeitete er, sie als Chefsekretärin. Der Lohn reichte für ein sorgenfreies Leben. Die verblaßten Bilder ihrer Wohnung in Saratov aus den 60er und 70er Jahren zeigen dies. Lavins ganzer Stolz: der riesige handgeknüpfte Wandteppich aus dem Kaukasus hinter dem Wohnzimmersofa, davor das lächelnde erste Kind der Lavins.
Trotzdem fiel vor vier Jahren die Entscheidung, nach Spanien überzusiedeln, nicht schwer. Lavins zweite Heimat, die Sowjetunion, war zerfallen. Die Ersparnisse aus einem anstrengenden Arbeitsleben zerrannen bei der Inflation. „Wir hatten 40.000 Rubel auf der hohen Kante. Nach altem Kurs waren das 80.000 US- Dollar. Genug, um vier Wohnungen mitten in Moskau zu kaufen. Als wir gingen, bekamen wir dafür gerade noch ein paar Schuhe“, erzählt Lavin.
Der Traum von La Patria sollte plötzlich keiner mehr bleiben.
Der Empfang fiel warmherzig aus. Alle, vom Lokalblättchen bis zu den hauptstädtischen Zeitungen, schickten Reporter und Fotografen. Mit Spenden wurde im modernen Neubau, wenige hundert Meter außerhalb des Ortes mit seinen alten Natursteingebäuden, eine Bibliothek mit spanischer und russischer Literatur eingerichtet. Selbst ein Piano stand schließlich im Gemeinschaftsraum des Retorno. Den Garten legten die Kriegskinder in Eigenarbeit an.
Der Presserummel ging allmählich zu Ende. Die Alten richteten sich auf einen geruhsamen Lebensabend unter ihresgleichen ein. „Doch dann fiel uns durch Zufall das hier in die Hände“ – sagt Lavin empört. Er zieht zwischen einem Stapel von Briefen und persönlichen Papieren eine Fotokopie hervor: ein Vertrag zwischen der für zurückgekehrte Emigranten zuständigen Stelle im Sozialministerium und der Leitung des Retorno.
Aus dem Dokument geht hervor, daß die alten Kriegskinder Ende dieses Jahres in ganz normale Altersheime in jene Regionen verlegt werden sollen, aus denen sie einst stammten. Nun versteht Lavin die Welt nicht mehr: „Man behandelt uns, als wären wir ganz normale Arbeitsemigranten. Dabei haben wir doch nicht aus eigener Entscheidung das Land verlassen.“
Die kleine Gruppe auf der Terrasse hinter dem Gemeindehaus fand sich zusammen, um zu überlegen, wie sie diese Entscheidung rückgängig machen können. In Rußland kamen sie nur selten zusammen, hier in Spanien wollen sie beieinanderwohnen. In der Sowjetunion waren sie kleine Helden, in Spanien nur verspätete Kriegsheimkehrer: Ähnliche Lebenswege stiften offenbar den Wunsch nach Nähe.
Einen Plan haben sie auch schon. „Man könnte uns doch die Kosten, die wir in einem Altersheim verursachen, jeden Monat auszahlen und uns Sozialwohnungen in einem der Vororte Madrids geben“, schlagen sie vor. So könnten sie auch ihre eigenen Kinder, die mittlerweile selbst alle Familien haben, nachholen.
So träumen die Alten. Seit Monaten geht Lavin, der sich zum Sprecher der Bewohner des Retorno gemacht hat, mit dieser Idee von Behörde zu Behörde. „Dann ziehe ich mir meine Uniform an“, erzählt der weißhaarige Mann, der dann wieder zum anderen, zum russischen Lavin wird. „Eindruck machen“ soll das auf die Beamten. Doch was in der Sowjetunion Respekt auslöste, will hier nicht so recht verfangen. „Die Spanier sind viel zu gute Fußballspieler, jeder gibt den Ball ab“, beschreibt der Alte das, was ihm dann passiert. Gänge rauf, Gänge runter.
Die Antwort auf seine, auf ihre Wünsche ist immer die gleiche: „Eine Sonderbehandlung ist nicht möglich. Die Auszahlung des Altersheimsatzes an die Betroffenen ist im Gesetz nicht vorgesehen.“ Auch die kommunistische Gewerkschaft CCOO, die Lavin um Unterstützung bat, kann nicht weiterhelfen. Bei der Kommunistischen Partei wollten die Kriegskinder erst gar nicht vorsprechen.
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