155 Femizide in Deutschland: Häusliche Gewalt nimmt weiter zu
2023 gab es erneut mehr Fälle von häuslicher Gewalt. Die meisten Opfer waren weiblich. Bundesinnenministerin Faeser (SPD) verspricht mehr Prävention.
Unter Häusliche Gewalt fallen in der Kriminalstatistik des BKA sowohl Partnerschaftsgewalt durch aktuelle oder ehemalige Partner:innen als auch innerfamiliäre Gewalt gegen und von Angehörigen. Zwei Drittel der Opfer waren dabei von Partnerschaftsgewalt betroffen, fast 80 Prozent von ihnen sind Frauen. Im letzten Jahr wurden 155 Frauen durch ihren Partner oder Ex-Partner ermordet.
„Wenn Frauen umgebracht werden, weil sie Frauen sind, müssen wir das klar als das benennen, was es ist: ein Femizid,“ erklärte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der Vorstellung des Bundeslagebilds zur häuslichen Gewalt am Freitag. Man dürfe solche Taten nicht als „Beziehungstaten“ verharmlosen. Als Femizid wird die Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts bezeichnet.
Bei über der Hälfte der Partnerschaftsgewalt handelte es sich um Körperverletzung, in elf Fällen endete diese tödlich. Knapp ein Viertel aller Betroffenen wurden Opfer von Bedrohung, Stalking oder Nötigung. BKA-Vizepräsidentin Martina Link betonte, dass Stalking mittlerweile auch vermehrt im Internet stattfinde.
„Wir gehen besonders bei der Partnerschaftsgewalt von einem hohen Dunkelfeld aus,“ kommentierte Link die Statistik. Allerdings sei unklar, ob es sich bei den gestiegenen Zahlen um einen tatsächlichen Anstieg häuslicher Gewalttaten handle oder ob sich mehr Betroffene getraut haben, Anzeige zu erstatten. Antworten darauf erhoffe sich das BKA durch eine in Zusammenarbeit mit dem Familien- und Innenministerium gestartete Studie zur Gewaltbetroffenheit in Deutschland, so Link. Erste Ergebnisse soll es nächstes Jahr geben.
Innen- und Familienministerium ziehen Konsequenzen
„Wir müssen die Gewaltspirale stoppen,“ forderte Innenministerin Faeser. Neben konsequenter Strafverfolgung, müsse auch die Hemmschwelle gesenkt werden, eine Anzeige zu erstatten. Dafür sollen zukünftig an Standorten der Bundespolizei rund um die Uhr besetzte Schalter für von Gewalt betroffene Frauen eingerichtet werden, die mit speziell geschulten Beamtinnen besetzt werden.
Besonders wichtig sei zudem die Prävention von Gewalt, die konsequente Strafverfolgung und eine verpflichtende Arbeit mit Tätern. Zu letzterem sei die Innenministerin in engem Austausch mit Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). „Ich bin sehr sicher, dass es noch diese Legislaturperiode zu einer Regelung kommt,“ erklärte Faeser.
Auch Familienministerin Lisa Paus (Grüne) betonte die Relevanz von Präventions- und Schutzangeboten. Das Recht aller Frauen auf Schutz umzusetzen, wie es in der Istanbul-Konvention steht, sei dabei besonders wichtig. Eine Expert:innengruppe des Europarats hatte bereits im Oktober 2022 darauf hingewiesen, dass es in Deutschland nicht genug Schutzräume für Betroffene häuslicher Gewalt gebe.
Paus will nun das im Koalitionsvertrag angekündigte Gewalthilfegesetz voranbringen. Dies soll einen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung für alle von Gewalt Betroffenen garantieren. Bislang sind die Länder und Kommunen zuständig für die Einrichtung von Gewalthilfesystemen. Das von Paus geplante Gesetz soll nun eine dauerhafte Beteiligung an den Kosten durch den Bund ermöglichen. Einen genauen Zeitplan gibt es hierfür noch nicht.
Gewalthilfegesetz höchste Priorität
Die Bundesarbeitsgemeinschaft kommunaler Frauenbüros und Gleichstellungsstellen erklärte in einer Pressemitteilung, dass die Umsetzung des Gewalthilfegesetzes höchste Priorität haben müsse. Nur so könne der Staat seiner Schutzverpflichtung nachkommen. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes fordert zudem die konsequente Durchsetzung von Annäherungsverboten, da sie für Frauen lebenswichtig sein können. „Häusliche Gewalt ist keine Privatsache – es ist Aufgabe des Staates, seine Bürger:innen vor Gewalt zu schützen,“ erklärte Sprecherin Johanna Wiest in einem Pressestatement.
Die Leiterin des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“, Petra Söchting berichtete im Jahr 2023 von fast 60.000 Personen, die sich an das Angebot gewendet haben. „Das Beratungsaufkommen ist so hoch wie nie zuvor,“ erklärte sie.
Für viele sei laut Söchting die Erstberatung über das Hilfetelefon ein erster Schritt aus der Spirale der Gewalt. Die Betroffenen sind dabei häufig noch nicht so weit, dass sie eine Anzeige erstatten wollen. Zunehmend melden sich auch den Opfern nahestehende Personen, besorgte Nachbar:innen oder Familienmitglieder bei ihnen. „Das soziale Umfeld kann ein Türöffner sein,“ so Söchting.
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