15 Jahre unabhängiges Kosovo: Die Sirenen von Mitrovica
Vor 15 Jahren erklärte sich das Kosovo für unabhängig. Doch der Konflikt mit Serbien blockiert den Fortschritt. Besuch in einer geteilten Stadt.
W enn Hyrije Neziri von ihrem Alltag erzählt, fallen ihr sofort die Alarmsirenen ein. Noch vor ein paar Wochen heulten sie in ihrer Heimatstadt Mitrovica im Norden des Kosovo immer wieder auf. Sie spielt Handyaufnahmen davon ab. Das erste Video stammt aus dem Sommer, das letzte vom Dezember. Verwackelt zeigen sie einen verängstigen Straßenhund, Fußgänger, die verschüchtert stehenbleiben, den Fluss. Im Hintergrund ist ein ansteigender Ton zu hören, durchdringend, wie bei einem Luftalarm im Krieg.
Doch im Kosovo herrscht kein Krieg mehr. Die Sirenen waren Protestzeichen der serbischsprachigen Bevölkerung, die im nördlichen Teil der Stadt lebt. Bei Neziri wecken sie Erinnerungen. „Die Geräusche lösen eine Traurigkeit in mir aus, die ich nicht in Worte fassen kann“, sagt sie.
Neziri sitzt auf einer Bank auf der Brücke über den Fluss Ibar im Zentrum Mitrovicas. Die 37-Jährige gehört zur albanischsprachigen Mehrheit des Kosovo. Sie ist in Mitrovica geboren und arbeitet bei einer Nichtregierungsorganisation, die sich gegen häusliche und misogyne Gewalt engagiert. Während des Kosovokriegs 1999 floh sie nach Albanien, danach kam sie zurück. Wie Neziri können viele, die die Kriegszeit erlebt haben, die Angst nicht ablegen, dass sich die Gewalt im Kosovo wiederholen könnte.
Von der Brücke aus fällt ihr Blick auf die Hochhäuser im Norden, auf die Schornsteine der Giebeldächer, durch die in diesen Wintertagen der Rauch aus den Holzöfen aufsteigt und sich zu einer unsichtbaren Kuppel formt, die auf der gesamten Region liegt wie ein beißender Schleier.
Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.
Die Fahrbahn auf der Brücke wirkt wie ausgestorben. Nur eine ältere Frau schleppt ein paar Einkaufstüten über den Fluss. Für Autos ist die Überfahrt seit über zwei Jahrzehnten blockiert, lange Zeit durch Barrikaden und meterhohe Steinhaufen, mittlerweile durch Betonpoller. Anstatt zu verbinden, teilt die Brücke die Stadt in einen serbisch geprägten Norden und einen albanisch geprägten Süden. Im Süden ragen Minarette der Moscheen zwischen den Wohnhäusern empor, im Norden orthodoxe Kirchen. Hüben duftet es aus Grillstuben nach Qebapa aus Rindfleisch, die für ein paar Euro zu haben sind, drüben locken Cevapcici vom Schwein – die man mit serbischen Dinar bezahlt. Aber alle atmen die gleiche verqualmte Luft.
Carabinieri bewachen die Brücke
Immer wieder kam es in den letzten Jahren im Norden Kosovos zu Konflikten, zu Protestaktionen und Straßenblockaden. Manchmal fielen Schüsse. Zuletzt hatten serbisch-nationalistische Aufständische Anfang Januar mit verkeilten Lkws eine Landstraße in Richtung serbischer Grenze dicht gemacht. Auch an der Brücke im Stadtzentrum kommt es immer wieder zu Demonstrationen. Sie wird seit Jahrzehnten von italienischen Carabinieri bewacht, die als Teil der Nato-Friedensmission KFOR im Kosovo stationiert sind. Auch an diesem Tag stehen zwei blau-weiße Landrover-Geländewagen mitten auf der leeren Fahrbahn. „Alles entspannt“, sagt einer der Carabinieri. Er spielt kurz mit einem der Straßenhunde, die sich zu ihnen gesellt haben. „Ein Freund“, sagt er über den braunen Mischling, steigt wieder in den Geländewagen und wartet.
15 Jahre nach der Erklärung der Unabhängigkeit bleibt Kosovo ein geteiltes Land unter dem Schutz der Nato-Truppen. Die Nachwirkungen des Krieges sind noch nicht überwunden. Während in der Hauptstadt Prishtina schicke Cafés, Bars und Nachtclubs für Ablenkung sorgen, bremsen nationalistische Ideen auf allen Seiten weiterhin ein Fortkommen, das sich vor allem die jungen Menschen hier so wünschen.
Für Neziri ist die Begegnung mit den ausländischen Journalisten eine willkommene Abwechslung. Deutsche seien beliebt im Kosovo, „aber vor allem die Amerikaner“, sagt sie und lacht. Bei einem Rundgang durch ihre Stadt zeigt sie die neue Einkaufsmall, nur ein paar Schritte von der Brücke entfernt. Die Leuchtreklame wirbt für Kleidungsgeschäfte, Bowlingbahn und eine Rossmann-Filiale. Schon zwei Straßen weiter werden die Häuser einfacher und verbergen sich hinter hohen, unverputzten Mauern.
Hyrije Neziri
Vor einem mehrstöckigen Gebäude hantieren zwei Männer mit einer Pumpe. Aus einem Schlauch aus dem Erdgeschoss sprudelt Wasser auf die lehmige Straße. Tags zuvor war der Fluss nach heftigen Regenfällen über die Ufer getreten, überall kämpfen die Leute gegen die Schäden, schaufeln feuchten Schlamm aus den Kellern. In einer Parkgarage watet ein Mann noch knietief durchs Wasser. In den Tagen nach der Überschwemmung helfen sich hier alle gegenseitig und packen mit an: Serben, Roma, Albaner.
Was auf dem Spiel steht
Doch was im Kleinen funktioniert, steht auf großer Bühne auf dem Spiel. Wenn die Idee einer multiethnischen Republik im Kosovo unter internationaler Begleitung nicht gelänge, wäre das ein schlechtes Signal für die Balkanregion, für Nordmazedonien und insbesondere Bosnien, wo es gleichfalls komplizierte ethnische Konstellationen gibt.
Auf dem Papier schützt die Verfassung des Kosovo die Rechte aller Minderheiten, die Sprachen, die Kultur. Auch im Parlament haben die ethnischen Minderheiten Plätze für VertreterInnen. Serbisch ist neben Albanisch zweite Amtssprache.
In der Praxis aber verstärkt sich das Nebeneinander: Gegen Roma etwa gehört Diskriminierung weiterhin zum Alltag. Die Mehrheit der Kosovo-Albaner dominiert die Institutionen, die serbische Bevölkerungsminderheit isoliert sich in ihren Enklaven. Nicht nur im Nordkosovo wachsen Kinder und Jugendliche auf, die sowohl zu Hause wie in den Schulen nur noch Serbisch lernen. Mit ihren kosovo-albanischen AltersgenossInnen fehlt ihnen die gemeinsame Sprache.
Milica Andrić Rakić
Neziri versteht Serbisch. In der Schulzeit habe sie serbische Freunde gehabt, erzählt sie. Heute nicht mehr. In den letzten Jahren war sie nur noch selten auf der nördlichen Seite. Manchmal spaziere sie den Berg hinauf zum Denkmal für die Arbeiter der Trepča-Mine. Das Monument aus den siebziger Jahren thront über der Stadt und soll daran erinnern, dass serbische und albanische Minenarbeiter während des Zweiten Weltkriegs gemeinsam gegen die deutschen Besatzer kämpften. Es stammt aus einer anderen Zeit, der eines geeinten Jugoslawiens.
Für die Regierung in Prishtina gehören heute auch die Gebiete nördlich des Ibar-Flusses und der Stadt Mitrovica selbstverständlich zum Staatsgebiet. So sehen das aktuell auch über 100 Staaten, die Kosovos Unabhängigkeit anerkennen. Für die Regierung in Belgrad dagegen gehört das Kosovo weiterhin selbstverständlich zu Serbien. Dies findet Unterstützung durch China und Russland. Aber auch die fünf EU-Mitgliedsländer Griechenland, Rumänien, Slowakei, Republik Zypern und Spanien erkennen die Unabhängigkeit des Staates nicht an.
Bei Diskussionen um das Kosovo geht es selten allein nur um die 1,9 Millionen EinwohnerInnen eines Fleckens der Größe Schleswig-Holsteins. Das Land ist Projektionsfläche für globale Konflikte: islamische gegen christliche Religion, Ost gegen West, Russland gegen die Nato.
Besuch im Camp Bondsteel
Knapp 80 Kilometer weiter im Süden liegt das Camp Bondsteel der KFOR-Soldaten. Seit 1999 liegt die US-Militärbasis vor den Toren der Stadt Ferizaj. Hinter einer schwer bewachten Eingangsschleuse erstrecken sich Hangars mit Black-Hawk-Hubschraubern und Militärbaracken über eine Hügelgruppe, so weit das Auge reicht. Für die Soldaten gibt es ein Fitnessstudio, ein Kino und sogar Fastfood-Filialen von Burger King und Subway. Hier im Camp sorgt man sich um den zunehmenden russischen Einfluss in der Region, insbesondere nach dem Überfall auf die Ukraine.
KFOR-Soldaten der US-Armee haben an diesem Tag WissenschaftlerInnen der Universität Prishtina eingeladen. In einem Nebenraum der Kantine spricht einer der Kommunikationswissenschaftler über zunehmende Desinformation und die Schwierigkeit, russische Propaganda zu kontrollieren. Die WissenschaftlerInnen würden sich mehr Kontrolle der Onlinemedien wünschen, die ihrer Meinung nach die serbische Minderheit im Nordkosovo aufhetzten. Die US-Soldaten sind da sehr vorsichtig. Meinungsfreiheit gehöre zu Demokratie, ebenso der Protest, sofern er friedlich bleibe, betonen sie im Gespräch.
Doch immer mehr KosovarInnen sind der großen Politik und der noch größeren Ideologien überdrüssig. Fragt man Neziri, was sie bedrückt, erzählt sie von Alltagsproblemen. „Die Löhne sind zu niedrig, Jobs werden noch zu oft über Beziehungen vergeben.“ Nach wie vor herrscht eine hohe Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent im Land und Investoren scheuen unsichere Gegenden. „Viele werden von Verwandten im Ausland unterstützt“, sagt Neziri. Auch ihre Geschwister leben mittlerweile in der Schweiz, Kanada und Deutschland. Sie sehne sich danach, sie zu besuchen, sagt Neziri, und fühle sich im Kosovo eingeengt.
So geht es den meisten Menschen hier: Sie warten auf die Visa-Liberalisierung. Die soll nun spätestens Anfang 2024 kommen. KosovarInnen könnten sich dann ohne Visum 90 Tage pro Jahr in der EU aufhalten – so wie es für die BürgerInnen aller ihrer Nachbarländer seit Jahren möglich ist.
Neziri hat den Konflikt satt, der ihr täglich auf der Brücke ein paar Minuten von ihrer Wohnung entfernt ins Auge springt. „Ich verstehe nicht, warum wir nicht einfach friedlich zusammenleben können“, sagt sie.
Auf der anderen Seite des Flusses
Milica Andrić Rakić blickt von der anderen Seite des Flusses auf die Brücke, die Stadt und den Konflikt. „In den letzten zwei Jahren hat sich die Lage langsam verschlechtert und der Nationalismus hat zugenommen“, sagt Andrić Rakić. Die junge Frau hat als Journalistin gearbeitet und ist bei der NGO New Social Initiative, die sich für die Teilhabe der serbischen Community im Kosovo einsetzt. Andrić Rakić wohnt im Nordteil von Mitrovica. Der Weg zu ihr führt zu Fuß über die zentrale Brücke, vorbei an den Carabinieri, den Straßenhunden und den Blockadepollern.
Die Brücke sei für beide Seiten ein Problem, sagt Andrić Rakić. Für die albanischen KosovarInnen sei sie ein Symbol, dass das Land nicht geeint sei. „Für die Serben im Kosovo ist sie wie eine Art letzte Grenze, ein Ort der Verteidigung.“ Sie erinnert an das Jahr 2004, in dem es im ganzen Land zu Pogromen kam. Albanische KosovarInnen attackierten Serben und Roma, mehrere Menschen starben, Tausende flohen.
Andrić Rakić sitzt auf einer Bank in der Fußgängerzone. An den Häusern und über den Straßen hängen Reihen serbischer Fahnen. Hin und wieder prangt auch die Flagge Russlands an einem Laternenpfahl. „Kosovo ist Serbien“, steht in kyrillischer Schrift auf einem meterhohen Graffito und „Krim ist Russland“. Auch der Buchstabe „Z“ ist an Hauswände gesprüht, als Zeichen für die Unterstützung des Angriffskriegs gegen die Ukraine.
Bekenntnisse finden sich freilich auch im albanisch geprägten Teil der Stadt. Ein Plakat nahe der Brücke ist gen Norden ausgerichtet: Es präsentiert das Emblem der paramilitärischen Organisation UÇK, spricht von einem freien Mitrovica und zeigt Hashim Thaçi. Er war einer der Gründer der UÇK, später in der Republik Kosovo zunächst Ministerpräsident und dann bis 2020 Präsident. Thaçi trat zurück, nachdem er in Den Haag wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Kosovokriegs angeklagt wurde. Die Hauptverhandlung soll Anfang März beginnen.
Symbole sind in einem jungen Staat nicht unwichtig. Schon seit Jahren weht an den meisten Orten im Kosovo nicht allein die blau-weiß-goldene Flagge des Kosovo, die Eigenständigkeit, EU-Orientierung sowie Multiethnizität symbolisiert. Meist wird daneben die Flagge Albaniens gehisst. Eine Kombination, die mit einer multiethnisch gedachten Republik schwer vereinbar ist. In serbischen Enklaven hingegen dominiert allein die weiß-blau-rote Flagge Serbiens.
Streit um Kennzeichen
Um nationale Symbolik dreht sich auch der Streit um die Autokennzeichen. Weil Serbien das Kosovo nicht anerkennt, werden die entsprechende Dokumente und Schilder nicht akzeptiert. Überall im Norden Mitrovicas sieht man Autos mit abgeklebten oder komplett abgeschraubten Kennzeichen. Das führt zu skurrilen Ritualen: An der Grenze von Serbien zum Kosovo hocken die Menschen am Straßenrand vor ihren Autos und überdecken die Hoheitszeichen auf ihren Schildern.
Die weißen Aufkleber dafür teilen die Grenzposten aus. Als die aktuelle kosovarische Regierung um Ministerpräsident Albin Kurti im August 2022 ankündigte, mit serbischen Kennzeichen künftig genauso zu verfahren, folgten Straßenblockaden, und über Mitrovica schallten die Protest-Sirenen, die Hyrije Neziri solche Angst machen.
Was ist das Anliegen der serbischen Minderheit? Einerseits, erklärt Andrić Rakić, lehne die Mehrheit ihre Zugehörigkeit zu einem unabhängigen albanisch geprägten Kosovo grundsätzlich ab. Andererseits gehe es um konkrete Schritte, wie denn die Integration umzusetzen wäre. Seit einigen Monaten fühlten sich die AnwohnerInnen im Norden Mitrovicas beispielsweise durch schwerbewaffnete Spezialeinheiten der Polizei bedroht, die Razzien durchführten. Es fehle an beiderseitigem Vertrauen, sagt Andrić Rakić.
Einer der wichtigsten Streitpunkte ist der geplante Zusammenschluss der serbischen Gemeinden im Kosovo. Die Gemeinden sollen sich zu einem hohen Grad selbst verwalten dürfen und für Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung, Bildung, Gesundheit und Stadtplanung zuständig sein. Festgelegt wurde dies im Brüsseler Abkommen von 2013, in dem unter Vermittlung der EU Fortschritte im Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo erzielt wurden.
Neben dem Zusammenschluss war für den Norden Kosovos unter anderem eine Integration der Polizei und Justiz ins kosovarische System vorgesehen. Dies wurde umgesetzt. Den Zusammenschluss aber gibt es bis heute nicht, Kosovos Regierung befürchtet darin einen Schritt zu einer Abspaltung oder autonomen Teilrepublik, das Verfassungsgericht hält den Plan teilweise für verfassungswidrig.
Abgemacht ist abgemacht, sagen dagegen die Serben. Im November kam es zum Eklat: Hunderte Polizisten und Richter aus dem Nordkosovo, die nach 2013 in die kosovarischen Strukturen integriert waren, quittierten ihren Dienst. Seitdem besteht ein Vakuum. „Ich glaube nicht, dass die Kosovo-Serben in einem integrierten Kosovo auf Dauer überleben können“, sagt Andrić Rakić.
Wenn Neziri auf der anderen Seite des Flusses über die Zukunft spricht, klingt es hoffnungsvoller. Am Abend sitzt sie im Restaurant Ura, direkt an der Ibar-Brücke, und rührt in ihrem Pfefferminztee. Sie vertraut auf die neue Regierung um Albin Kurti und seine Partei Vetëvendosje. Die ist sozialdemokratisch, bekämpft die Korruption im Land und respektiert die Rechte von Minderheiten. In einer homophoben und religiöser werdenden Gesellschaft trat Kurti für ein Gesetz für gleichgeschlechtliche Partnerschaften ein, das allerdings im Parlament scheiterte.
Erst Zahnmedizin, dann Befreiungskampf
Gleichzeitig steht Vetëvendosje für einen linken Nationalismus, der auch die Idee einschließt, dass sich das Kosovo mit Albanien zusammenschließen könne. Seit der rechtspopulistische serbische Präsident Aleksandar Vučić den selbstbewussten Kurti als Gegenüber hat, sind die Beziehungen zwischen Prishtina und Belgrad auf einem Tiefpunkt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ein deutsch-französischer Vorschlag, gestützt von USA und EU, will das verbessern: Ohne formelle Anerkennung sollen beide Länder sich dennoch akzeptieren und international nicht mehr blockieren. Die Diskussionen darum laufen.
An diesem Tag ist Neziri in dem Restaurant an der Ibar-Brücke nicht die Einzige, die sich über die Situation im Kosovo Gedanken macht. An einem Nachbartisch sitzen zwei Männer und unterhalten sich bei einem Glas Wein. Einer von ihnen ist Xhelal Sveçla, der Innenminister des Kosovo. Seit Wochen kommt er regelmäßig nach Mitrovica, um sich über die Lage zu informieren. Der Blick auf die verbarrikadierte Brücke erfülle ihn mit Traurigkeit, sagt er. „Diese Brücke trennt seit mehr als 20 Jahren zwei Gemeinschaften, die sich nicht sonderlich unterscheiden.“
Sveçla hatte Zahnmedizin studiert und schloss sich 1998 der UÇK an. Später übernahm er eine Führungsaufgabe bei „SOS Kinderdorf International“. 2021 wurde er zum Innenminister ernannt. Gerade habe er sich die Situation im Norden angeschaut, sagt Sveçla. Zu lange habe man nach kurzfristiger Ruhe, aber nicht nach Frieden gestrebt, sagt er. „Wir brauchen Stabilität und Wohlstand für jeden einzelnen Bürger, ohne Ansehen nationaler, religiöser oder sonstiger Zugehörigkeit.“
Im Nordkosovo habe es ein schwarzes Loch der Rechtsstaatlichkeit gegeben. „Es war voll von Kriminalität.“ Die Razzien der Spezialkräfte der Polizei hätten sich nicht gegen die serbische Bevölkerung gerichtet, sondern gegen kriminelle Banden – und die seien gemischt: „Wenn wir zuschlugen, war es immer eine Mischung aus Albanern, Serben, Bosniaken und anderen Minderheiten“. Serbien würde einen Teil der lokalen Bevölkerung missbrauchen und kriminelle Strukturen unterstützen.
Russland fernhalten
Sveçla warnt vor dem zunehmenden Einfluss Russlands und spricht von einem „hybriden Krieg“, in dem Serbien und Russland das Kosovo angriffen. „Wir müssen Russland so weit wie möglich von dieser Region fernhalten. Und Serbien vom Kosovo.“ Es gehe ihm nicht um die serbischen Bürger des Kosovo, betont er. Sie sollten gleichberechtigt behandelt werden. „Kosovo gehört zu ihnen genauso wie zu mir. Aber wir brauchen Bürger, die der Republik Kosovo gegenüber loyal sind, und nicht Personen, die die Staatlichkeit des Kosovo im Interesse Belgrads und Moskaus bekämpfen.“
Wie er die nächsten 15 Jahre des Kosovo sieht? „Wir bewegen uns in sehr schnellem Tempo vorwärts“, sagt er. Seine Regierung wisse, wohin sie wolle: EU-Integration, Beitritt zur Nato. „Die absolute Mehrheit der Menschen im Kosovo will Teil von Europa sein.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut