: 1.200 Mark Existenzgeld für jeden
■ Arbeitsloseninitiativen fordern: „Existenzrecht jenseits des Leistungsprinzips“
Jeder Mensch in Deutschland soll, „unabhängig von seiner Verwertbarkeit auf dem jeweiligen Arbeitsmarkt“, ein Existenzgeld von mindestens 1.200 Mark erhalten; dazu kommen Miete, Mietnebenkosten und Urlaubsgeld. Diese Forderung verabschiedeten gestern in Bremen Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut aus dem gesamten Bundesgebiet. Vertreten waren auch Initiativen aus den neuen Bundesländern. Die hatten sich vor einem Jahr noch gegen das Existenzgeld gestellt und stattdessen die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung gefordert, „aber das hat sich ja nun als völlig utopisch erwiesen“, so Christian Brunotte von der Hamburger Arbeitsloseninitiative „Jobber“. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen hatte auf ihrem Bundestreffen in der letzten Woche bereits eine gleichlautende Forderung zum Existenzgeld beschlossen.
Wer das denn alles bezahlen soll, war für einen Vertreter aus Frankfurt „völlig uninteressant“: „Es fragt ja auch keiner, wovon Erwerbslose leben, die aus dem sozialen Netz herausgefallen sind.“ Uwe Durchbach vom Arbeitslosen-Kreis des Marburger DGB stellt sich das so vor: „Wenn man auf die Senkung der Vermögenssteuer verzichten würde und stattdessen die Spitzensteuersätze wie in Skandinavien auf 85 Prozent anhebt, käme schon einiges zusammen.“ Sein Kollege von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg, Guido Grüner, ergänzte, bei der Auflösung der DDR seien plötzlich auch Unsummen vorhanden gewesen, ebenso bei der Hilfe für die Sowjetunion. Auch die 50 Millionen für die Verlegung der Hauptstadt wären finanzierbar. „Es kommt immer drauf an, was politisch gewollt ist.“
Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) will das Existenzgeld nicht nur als materielle Absicherung, sondern auch als „gesellschaftliche Utopie“ verstanden wissen. Es gehe nicht um eine „Frühverrentung“ von Überflüssigen. „Die Art und Weise, wie die Arbeit organisiert ist und was für wen produziert wird“ soll sich ändern. Niemand soll mehr gezwungen werden, Stellen anzunehmen, die so schlecht bezahlt werden, daß sie zur Existenzsicherung nicht ausreichen. Die BAG wendet sich gegen Arbeitsverhältnisse, die per Bezahlung als „Zuverdienst“ definiert werden. Auch Putzfrauen oder Verkäuferinnen sollen von ihrem Verdienst leben können — oder aber Existenzgeld beziehen. Engagement in Initiativen, in der Nachbarschaftspflege und der ehrenamtlichen Sozialarbeit will die BAG per Existenzgeld anerkannt wissen.
Keiner soll mehr arbeiten müssen. Aber eine „radikale Arbeitszeitverkürzung“ soll dazu führen, daß alle, die arbeiten wollen, auch arbeiten können. Nur — wer will dann noch? Das sei in der Tat ein Problem bei der Vermittlung der Forderung, bestätigte Uwe Durchbach. Die Sozialhilfe sei bewußt so niedrig bemessen, daß „immer noch ein ausreichender Anreiz zur Arbeitsaufnahme“ bestehe. Existenzgeld plus Miete und Nebenkosten liege deutlich über diesem Satz und auch über dem Verdienst in Niedriglohngruppen. Deshalb sei auch die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften schwierig. Das Existenzgeld als „eine gesellschaftliche Utopie, die eine individuelle Lebensplanung ohne Gelddruck, Bürokratie und Arbeitszwang“ verspricht, wie es im Thesenpapier des BAG heißt, müsse langfristig diskutiert werden, von unten, mit den direkt Betroffenen, gegen den immer stärkeren Trend zur Leistungsgesellschaft. Durchbach: „Das wird seine Zeit brauchen.“ asp
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