1.000 Tage Krieg in der Ukraine: Noch nicht verloren und nicht vergessen
Am 24. Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine. taz-Autor*innen berichten aus einem geschundenen Land, in dem die Hoffnung noch nicht verloren ist.
I n der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 2022 klingelt das Handy. „Es hat angefangen“, sagt Nastja, eine enge ukrainische Freundin. Seitdem sind 1.000 Tage vergangen und er tobt immer noch, Russlands brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine, der eine Zäsur in der europäischen Nachkriegsgeschichte ist. 1.000 Tage Tod, Leid, verheerte Seelen, weggebombte ukrainische Städte und Dörfer sowie zerstörte Familien, Träume und Hoffnungen.
Doch mit jedem weiteren Tag, den Moskaus Feldzug andauert, scheinen wir uns mehr an das Grauen zu gewöhnen, business as usual, irgendwie alles ganz „normal“. Wirklich? In der Nacht zum vergangenen Sonntag überziehen russische Truppen die Ukraine – wieder einmal – mit flächendeckenden Bombardierungen, den massivsten seit August dieses Jahres. 120 Raketen und 90 Drohnen werden abgefeuert. Mindestens fünf Menschen sterben.
Das Ziel des Terrors kurz vor dem Wintereinbruch ist vor allem die kritische Infrastruktur, und die Intention klar: der zusehends erschöpften ukrainischen Bevölkerung die Lebensgrundlage zu entziehen und sie, einen drohenden Kältetod vor Augen, doch noch in die Knie zu zwingen.
Militärisch hat Kyjiw diesen Angriffswellen derzeit nicht viel entgegenzusetzen. Unter enormen Verlusten, laut Chef des britischen Verteidigungsstabs Admiral Tony Radakin, allein im vergangenen Oktober täglich 1.500 verletzte oder getötete russische Soldaten, kämpfen sich Wladimir Putins Truppen in der Ostukraine vor, langsam aber stetig. Der Druck auf die verbliebenen ukrainischen Verteidigungslinien wächst von Tag zu Tag.
Der ukrainischen Luftabwehr fehlt es an technischer Ausrüstung und personellen Ressourcen. Bemühungen, neue Soldat*innen zu rekrutieren, können das nicht ausgleichen. Das Webportal Ukrainska Pravda berichtet von fast 18.300 Menschen, die sich in der Zeit zwischen Januar und September 2024 dem Einsatz an der Front entzogen hätten – viermal mehr, als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Als wäre das alles nicht schon deprimierend genug, wächst in der Ukraine die Angst, die Unterstützung westlicher Verbündeter könne nachlassen. Zu Recht. Zwar hat der scheidende US-Präsident Joe Biden Kyjiw jetzt grünes Licht gegeben, US-Raketen mit höherer Reichweite auch im russischen Hinterland einzusetzen. Der Wiedereinzug von Donald Trump ins Weiße Haus verheißt für Kyjiw perspektivisch jedoch nichts Gutes.
Auch Noch-Kanzler Olaf Scholz gilt nach wie vor als unsicherer Kantonist. In seiner Regierungserklärung am Mittwoch vergangener Woche erteilt er sowohl dem Einsatz westlicher Waffen auf russischem Territorium als auch der Lieferung des Marschflugkörpers Taurus eine klare Absage. Zwei Tage später telefoniert Scholz nach langer Zeit erstmals wieder mit Wladimir Putin. Der Erkenntnisgewinn dieses als Kotau vor dem Kremlchef kritisierten Anrufs ist überschaubar: Sollte es Verhandlungen geben, dann nur zu Moskaus Bedingungen.
Vielleicht hätte Olaf Scholz Oleksandr Danylyuk zuhören sollen. Der ehemalige hochrangige ukrainische Militär- und Geheimdienstberater hält es für naiv zu glauben, Russland habe die Absicht, überhaupt über irgendetwas zu verhandeln. „Moskaus politisches Ziel ist es, die weltweite Sicherheitsarchitektur zu zerstören oder zumindest neu zu justieren“, sagt er.
„Moskau wird Verhandlungen nutzen, um die westliche Unterstützung für die Ukraine zu reduzieren und seinen unheiligen Kreuzzug gegen den Westen fortzusetzen. Es gibt keinen Weg zurück zur Normalität. Dies ist ein globaler Krieg, den der Westen entweder gewinnen kann oder er wird besiegt werden.“ Barbara Oertel, Osteuropa-Redakteurin
Das wertvollste, das wir haben: Die Menschlichkeit
Von Yuliia Shchetyna, Kyjiw
Vielleicht hatte ich vor dem Krieg nicht verstanden, wie wichtig die Beziehungen mit anderen Menschen sind. Aber es ist die menschliche Güte, die warmherzige, aufrichtige, bescheidene, die uns hilft, diese Zeit durchzustehen.
Als Journalistin sehe ich jeden Tag das wahre Gesicht des Krieges: sterbende Menschen, zerstörte Leben, zerrissene Familien. Jeden Tag lese ich in meinem Nachrichten-Feed von neuen Raketenangriffen und dem Beschuss der Zivilbevölkerung.
Und natürlich höre ich auch selber die Angriffe auf Kyjiw in der Nacht: die Sirenen, das Heulen der Drohnen, die Explosionen. Jedes Mal denke ich dann, dass es auch mein Haus hätte treffen können. Nach solch einer Nacht ist meine Stimmung meistens sehr durchwachsen.
Aber wenn ich dann zur Arbeit gehe und mich mit meinen Kollegen austausche, sehe ich Verständnis und Mitgefühl in ihren Augen.
Im Laufe des Krieges habe ich verstanden, dass dieses aufrichtige Verständnis, diese Unterstützung, das Wertvollste ist, das wir haben.
Meine Eltern leben am rechten Ufer des Dnipro im Gebiet Cherson. Ihr Dorf war acht Monate unter russischer Besatzung. Die Soldaten der Russischen Föderation haben dort ihre eigenen Regeln eingeführt: Sie haben Krankenhäuser beschossen, die Häuser der Einheimischen geplündert und proukrainische Zivilisten festgenommen. Und nach einigen Monaten hatten meine Eltern keinen Telefonempfang mehr, keinen Strom, keine Heizung – und keine Möglichkeit, sich frei zu bewegen oder zu kommunizieren.
Mein Vater hat bei der Reparatur der verbliebenen Stromleitungen geholfen. Er kletterte selbst auf die Masten und reparierte die Leitungen, sodass die Menschen noch eine Zeitlang Strom hatten. Außerdem versorgte er mit seinem kleinen Boot die Nachbarn im Dorf, trotz der Gefahr durch Drohnen.
Meine Mutter kochte gemeinsam mit den Nachbarn Essen für alte, alleinstehende Menschen; sie gab ihnen auch von dem Obst und Gemüse aus unserem Garten ab. Sie erfand neue Gerichte aus den wenigen, noch vorhandenen Lebensmitteln. Eins davon war ein Käsekuchen, den Mama „Kriegskuchen“ nannte.
Meine Eltern hatten sich entschieden, unser Haus und unsere Nachbarn nicht zu verlassen. Unter den russischen Besatzern taten sich die Ukrainer, die dort geblieben waren, zusammen und halfen einander.
Im Herbst 2023 wurde das Dorf meiner Eltern befreit und viele der Bewohner gingen an die Front. Wenn die Getöteten ins Dorf zurückgebracht werden, kommen alle auf die Straße, knien nieder und bilden so einen „lebenden Korridor“, um dem Soldaten für seinen Mut zu danken, mit dem er sein Volk geschützt hat. Die Menschen in der Ukraine nehmen sich jetzt häufiger gegenseitig in den Arm.
Kommt jemand von meinen Freunden nach Kyjiw, versuchen wir, uns wenigstens für eine Stunde auf einen Kaffee zu treffen. Nie waren mir diese Treffen so wichtig wie gerade jetzt, wo jeder und jede von uns die Nächste sein könnte. Das hat nichts Pathetisches, das ist ukrainische Realität.
In 1.000 Tagen Krieg habe ich verstanden, dass, selbst wenn ringsumher Chaos und Unsicherheit herrschen, die Menschlichkeit das ist, was uns verbindet.
Aus dem Ukrainischen: Gaby Coldewey
Yuliia Shchetyna kommt aus dem Gebiet Cherson. 2022 floh sie nach Finnland, 2023 war sie Praktikantin bei der taz. Anschließend kehrte sie in die Ukraine zurück und lebt jetzt in Kyjiw.
Was uns noch zum Weinen bringt: Die Kinder
Von Tatjana Milimko, Odessa
Meine Kollegin kam in der letzten Woche weinend von einem Außentermin zurück in die Redaktion. Wir wussten, dass sie eine schlimme Woche gehabt hatte. Als Bildreporterin dokumentiert sie die Folgen der russischen Angriffe in Odessa. Und jede Nacht, jeden darauffolgenden Morgen der vergangenen Woche, musste sie ihre beiden Kinder zu Hause alleine lassen, um dorthin zu fahren, wo Raketen eingeschlagen hatten.
Wir bemühten uns, sie zu trösten. Aber sie weinte nicht wegen der Zerstörungen und Toten, die sie gesehen hatte. Sie weinte, weil sie nach dem Beschuss die Geburt eines Kindes miterlebt hatte und sich darüber freute, dass das Leben weitergeht.
Nach 1.000 Tagen Krieg weinen wir nicht mehr vor Kummer. Wir weinen beim Anblick des Lebens.
In jeder ukrainischen Familie gibt es Kriegstote oder Verwundete. Die männlichen Journalisten, mit denen ich früher zusammengearbeitet habe, mussten fast alle an die Front. Berufe, die früher Männern vorbehalten waren, zum Beispiel im Wachschutz, als Traktor- oder Lkw-Fahrer, werden jetzt von Frauen übernommen.
Ich schreibe diesen Text im Bunker, denn Odessa wird wieder einmal mit Raketen und Drohnen angegriffen. Neben mir ist eine schwangere Frau, bei jeder Explosion versteckt sie sich hinter einem Pfeiler. Ihr Bauch ist schon so groß, dass man ihn auch trotzdem noch sieht. Ich schaue sie an und denke, dass das Leben trotz allem weitergeht.
Meine Kinder leben jetzt in Österreich. Neulich habe ich sie besucht, mein Ältester hatte Geburtstag. Am Flughafen Wien fragte mich eine Sicherheitsbeamtin beim Anblick meines ukrainischen Passes, wie wir jetzt nach dem Krieg leben würden. Sie dachte wirklich, der Krieg sei vorbei, weil er in den österreichischen Medien kaum noch erwähnt wird.
Dabei ist der Krieg gerade in einer sehr aktiven Phase. Die russische Armee zielt auf Wohnhäuser, beschießt das Heizungsnetz und veranstaltet sogenannte Drohnenjagden. Sie suchen nach ganz normalen Menschen und werfen dann Sprengstoff über ihnen ab.
Meine Kinder wollen nach Hause. Sie sehnen sich nach ihren Freunden. In ihrer österreichischen Schule denken auch alle, dass in der Ukraine kein Krieg mehr sei. Die Kinder müssen das Gegenteil beweisen. Während die russische Armee weiter ukrainische Schulen zerstört.
In den 1.000 Tagen seit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine sind mehr als 600 Kinder gestorben, fast 1.500 wurden zum Teil schwer verletzt. Ich kann meine Söhne nicht einem solchen Risiko aussetzen. Obwohl ich sie vielleicht eines Tages nicht mehr wiedersehen werde.
Neulich wurden nach einem Beschuss von Krywyj Rih eine Mutter und ihre drei Kinder beerdigt, das jüngste noch keine zwei Monate alt. In den europäischen Medien wird darüber nicht mehr berichtet. Denn in den USA waren Wahlen.
Und jetzt ist bald Weihnachten und Lieder wie „Carol of the Bells“ werden gespielt, komponiert von Mykola Leontowytsch in der Stadt Pokrowsk, die die russische Armee fast dem Erdboden gleichgemacht hat. So wie viele andere. Und doch möchten wir, dass das Leben hier weitergeht. Wir möchten den Tod aufhalten.
Aus dem Russischen: Gaby Coldewey
Tatjana Milimko wurde in Odessa geboren und lebt bis heute dort. Ihre zwei Söhne hat sie nach Österreich evakuiert. Seit 2022 schreibt sie für die taz.
Das Gegenteil von Krieg: Die Kultur
Von Juri Konkewitsch, Luzk
Eines Tages im September hatte ich eine verrückte Woche, wenn eine solche Formulierung für ein Land angemessen ist, das in einen völkermörderischen Krieg verwickelt ist. Dann aber bestätigte sich meine Annahme, dass in der Ukraine zwar Hunderte Menschen sterben, Dutzende Städte zu Staub zerfallen, gleichzeitig jedoch das kulturelle Leben einem kraftvollem, pulsierendem Strom gleicht.
Zunächst kaufte ich Karten für zwei Konzerte in Luzk. Einmal für ein Rockmusical über die kulturelle Wiedergeburt der Ukraine in den 1920er- und 30er-Jahren unter Stalin, die anderen für den Auftritt der populären Gruppe „Pirog und Batik“, die die Worte ukrainischer Dichter des 20. Jahrhunderts vertont.
In derselben Woche guckten meine Frau und ich uns zwei neue ukrainische Filme an. „Me and Felix“ ist die Geschichte eines Teenagers in den 1980er-Jahren, „Dowbusch“ ein historisches Drama aus dem 18. Jahrhundert, das vor dem Krieg gedreht wurde. Später erfahre ich, dass fünf Menschen aus dem Filmteam umgekommen und sieben verschwunden sind. Der Kameramann aus Luzk, Sergej Michaltschuk, arbeitet für den Geheimdienst in der russischen Region Kursk.
Ein paar Tage später landete ich in Lwiw bei einer Buchmesse. Früher war das eine Kultveranstaltung für alle ukrainischen Verlage, die dort ihre Neuerscheinungen vorstellten. Seit Beginn des Krieges 2022 hat sich die Messe zu einer Diskussionsplattform entwickelt, die Intellektuelle zusammenbringt. Ich konnte mehrere Veranstaltungen nur im Stehen verfolgen, so groß war der Andrang.
Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich weiß, in welchem Land und zu welcher Zeit ich lebe. Zwischen all diesen Ereignissen der „verrückten Woche“ habe ich mir ständig die Luftalarmwarnungen angeguckt, mehreren Soldaten die letzte Ehre erwiesen und meinem Sohn, er studiert in Lwiw, Ratschläge gegeben, wie er am besten in einer Notunterkunft übernachten kann.
Aber Kultur ist wichtig, weil sie Dinge beeinflussen kann. Es ist kein Zufall, dass russische Truppen unsere Museen und Theater zerstören, geplünderte Ausstellungsstücke entfernen und abtransportieren und Bücher aus Schulbibliotheken verbrennen. Wenn wir die Kultur bewahren, wird die Welt erkennen, wie schrecklich die russischen Verbrechen sind. Deshalb wird für unsere Freiheit gleichzeitig in den Schützengräben an der Front und in Kunstgalerien, Theatern und Hörsälen von Universitäten gekämpft.
Gerade als ich diesen Text fertigstelle, stoße ich im Internet auf ein Foto von der Eröffnung einer neuen Buchhandlung in Luzk. Fantastisch! Die Leute haben eine Stunde auf das Autogramm einer Schriftstellerin gewartet.
Das Wesen des Krieges ist Zerstörung. Er zerstört sowohl die Materie als auch das Unsichtbare – Emotionen, die Psyche, den Glauben an die Menschheit, Verbindungen zwischen Menschen. Daher ist die Negation des Krieges nicht Frieden, sondern Kultur: die Schaffung von etwas Neuem.
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
Juri Konkewitsch kommt aus dem westukrainischen Luzk, wo er bis heute lebt. Seit 2022 berichtet er regelmäßig für die taz.
Das ist nicht normal: Der Gewöhnungseffekt
Von Roman Huba, Kyjiw
Ich schreibe diesen Text am 994. Tag des russischen Großangriffs auf die Ukraine, und bei mir ist alles ganz normal. In meiner völlig normalen Küche pfeift ein völlig normaler Teekessel, leuchtet eine völlig normale Glühbirne, ein völlig normaler Heizkörper spendet völlig normal Wärme. Und ich schätze, dass auch Sie diesen Text unter völlig normalen Bedingungen lesen.
Vor wenigen Minuten jedoch las ich, dass gerade eine ballistische Rakete über dem Teil von Kyjiw abgeschossen wurde, in dem ich wohne. Am Himmel über uns fliegen iranische Drohnen mit russischer Registrierung (oder umgekehrt) und irgendwo über dem Kaspischen Meer kreisen Trägerraketen für Marschflugkörper.
Die Angriffe werden immer von einer Sirene angekündigt, die routinemäßig zwei-, dreimal pro Nacht ertönt. Manchmal schlafen wir einfach weiter. Wegen eines Raketenangriffs geht fast niemand mehr in den Schutzraum.
So sieht unsere Normalität aus. Es hat nicht einmal Sinn, jemandem davon zu erzählen. Oder teilen Sie mit jemandem ihre Eindrücke von der morgendlichen Dusche oder vom Zähneputzen?
„Das ist einfach ein Anpassungsprozess“, sagt der aufmerksame Leser. „Sonst würdet ihr verrückt. Und überhaupt, in Kyjiw ist doch noch alles mehr oder weniger in Ordnung, sogar in Charkiw kann man leben – und selbst in Pokrowsk leben die Menschen ja noch irgendwie.“
Ich schreibe dies, um mich selber daran zu erinnern, dass all das ganz und gar nicht normal ist.
Es ist nicht normal, dass nun schon das dritte Jahr in Folge die Menschen abends mit der Angst ins Bett gehen, am nächsten Morgen vielleicht nicht mehr aufzuwachen. Es ist nicht normal, dass die einen Angst um ihre Liebsten haben, die sich nicht mehr von der Front melden, während andere zu Hause bleiben, aus Angst, sonst an die Front zu müssen.
Es ist nicht normal, dass Menschen Kaliumjodid kaufen, um für den Fall eines Atomschlags gewappnet zu sein. Dass ein tot aufgefundener Ehemann oder Sohn ein „gutes Ergebnis“ ist, besser jedenfalls, als wären sie „vermisst“.
Auch, dass mein Haus zerstört wurde, ist nicht normal. Und dass es Millionen solcher zerstörter Häuser gibt. Es ist nicht normal, dass meine Mutter in einem fremden Land leben muss. Dass geliebte Menschen nie mehr nach Hause kommen.
Es ist nicht normal, dass Russland die Ukraine überfallen und die Mehrheit der Russen das unterstützt hat. Und dass viele von ihnen immer noch von „Putins Krieg“ sprechen, und nicht vom russisch-ukrainischen.
Es ist absolut nicht normal, dass all das schon 1.000 Tage andauert – und wenn man von der Krim-Annexion an rechnet, dann schon zehn Jahre. Also ein Drittel meines Lebens. Hunderttausende Tote, besetzte Gebieten, zerstörte Infrastruktur. Die Ukraine muss damit leben. Und oft scheint es so, als sei all dies für immer.
Aus dem Russischen: Gaby Coldewey
Roman Huba stammt aus der Ostukraine und ist nach Kriegsbeginn aus dem Donbass nach Kyjiw gekommen. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Was uns eine Chance gibt: Mut und Solidarität
Von Rostyslav Averchuk, Lwiw
Von einem Foto schaut mich ein elegant gekleideter, lächelnder junger Mann mit verträumtem Blick an. Witaliy Pochila hat acht Jahre lang in Spanien gelebt, doch nach dem Beginn der russischen Invasion ließ er alles hinter sich – ein erfolgreiches Unternehmen, Freunde, Pläne für die Zukunft –, um sich der ukrainischen Armee anzuschließen.
Ein ähnliches Foto in Zivil lehnt an einer Seite des Gedenksteins, der seit zwei Wochen auf seinem Grab steht. Auf der anderen ein zweites Foto – er trägt bereits eine Uniform und hat eine Waffe – er wirkt müde, ist unrasiert, aber er lächelt immer noch.
An Witaly denke ich immer dann, wenn wir in der Statistik die Opfer dieser ungerechten Aggression nach Zivilisten und Militärs aufteilen. Wie zwei Seiten derselben Medaille erinnert uns dieser Gedenkstein daran, wie der Krieg das Leben tausender Männer und Frauen veränderte, die ohne militärische Erfahrung zu den Waffen gegriffen hatten.
Als russische Truppen vor 1.000 Tagen in die Ukraine einmarschierten, waren es genau solche Menschen, die, wie Witaly, Wladimir Putins Karten neu mischten und alle Berechnungen für eine schnelle Besatzung zunichte machten. „Er war immer da, wenn es nötig war, andere zu schützen“, erinnert sich die Freiwillige Tetiana Shabliy, die Witalys Freunde weiter unterstützt, die kämpfen oder ihre Verletzungen auskurieren.
Wahrscheinlich war ihnen damals gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie ihr Leben würden geben oder jahrelang kämpfen müssen. Da wirkten tiefe Überzeugungen und Werte wie „Mut“ und „Ehre“. Heutzutage sieht man in der Nähe von Einberufungsämtern keine Schlange mehr. Das Gerede von Sieg und Heldentum, das Politikern über die Lippen kommt – noch dazu inmitten von Korruptionsskandalen – irritiert viele müde und verwundete Soldaten. Aber es ist der Mut der einfachen Soldaten, der uns weiterhin eine Chance gibt.
Die vorsichtige und zögerliche Unterstützung der Verbündeten führt jedoch ebenfalls dazu, dass viele Angst davor haben, zur Armee zu gehen, da diese nicht über die nötigen Waffen verfügt, um die zahlenmäßige Überlegenheit der Russen auszugleichen.
„Die Infanterie – das sind gewöhnliche Menschen, die sich, sei es dem Ruf ihres Herzens folgend oder der Notwendigkeit gehorchend, unter einem „Pixel“ (der Name der ZSU-Armeeuniform) vereint haben, um ihr Zuhause, ihre Familie und ihre Stadt zu verteidigen“, sagt Anatoly Stasiuk aus Winnyzja. Von den ersten Kriegstagen an stand er an vorderster Front. Er kämpft weiter, auch nachdem er durch eine Mine einen Fuß verloren hat. Seine Ruhe verblüfft. „Ich verstehe die Menschen, die Angst haben und nicht zur Armee gehen. Hauptsache, sie beteiligen sich zumindest irgendwie an der Verteidigung – das geht ohne Waffe. Nur gemeinsam können wir unser Land verteidigen“, sagt er.
Anatoly und andere Soldaten erzählen nur einen Teil dessen, was an der Front passiert. „Alles ist in Ordnung. Wenn sie nicht auch noch geschossen hätten, wäre es großartig gewesen!“, erzählt mir mein Cousin Jaroslaw. Er ist 50 Jahre alt, ein maßvoller Mann, der vor der Mobilisierung in einer Kleinstadt Weinbau betrieben hat.
Anatoly Stasiuk, Soldat
Jaroslaw setzt alles daran, seine Mutter zu beruhigen, die vor lauter Kummer weder ein noch aus weiß. Auch ich mache mit Sorgen um ihn und zwei weitere Cousins, die sich den Streitkräften angeschlossen haben, als sie das Gefühl hatten, nicht einfach zusehen zu können, während ihre Freunde kämpften.
Vielleicht wären mehr Menschen und Politiker im Ausland bereit, diesen Soldaten zu helfen, wenn deren Schmerz und Wunden offener gezeigt würden? Andererseits kann das die Angst verstärken, die Verbündete davon abhält, entschiedener gegen Wladimir Putin vorzugehen, dem das Leben seiner eigenen und anderer Soldaten nichts bedeutet. „Wir wissen, dass wir für das Überleben des Landes kämpfen – das ist unsere Hauptmotivation“, sagt Taras, ein 26-jähriger Freiwilliger aus Kyjiw. „Aber es ist schwer zu vermitteln, wie viel einfacher es für uns ist, wenn wir das Gefühl haben, nicht allein zu sein.“
Aus dem Russischen Barbara Oertel
Rostyslaw Averchuk ist freier Journalist in Lwiw. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
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