100 Jahre Ende des Ersten Weltkriegs: Im Gedenken vereint und getrennt
In jedem europäischen Land beschäftigen die Bürger andere Fragen zum Ersten Weltkrieg. Spaltet oder vereint diese Vielfalt des Gedenkens Europa?
Bilder zeugen davon, wie Politiker diesem Wunsch Ausdruck verliehen: 2014 umarmten sich die damaligen Staatspräsidenten Joachim Gauck und Francois Hollande, später Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Somme, im strömenden Regen.
Dem gemeinsamen Gedenken ihrer Spitzenpolitiker folgten jedoch viele Europäer nicht. „In den gesellschaftlichen Debatten der kriegsbeteiligten Länder standen ganz unterschiedliche Fragen im Mittelpunkt des Interesses“, beobachtete Historiker Leonhard auf seinen Vortragsreisen durch Europa.
In Deutschland diskutierte man über die Frage der Schuld am Kriegsausbruch, ausgelöst durch einen Bestseller des Cambridge-Historikers Christopher Clark mit dem programmatischen Titel „Die Schlafwandler“. Es setzte eine Debatte darüber in Gang, ob Deutschland doch nicht die Hauptverantwortung für den Ersten Weltkrieg zu tragen habe – was bis zu diesem Zeitpunkt breiter Konsens in der Geschichtsforschung war.
Unterschiede nicht leugnen
Belgien, im Weltkrieg von deutschen Truppen besetzt, bewegte hingegen die Frage, ob der Umgang mit Frauen angemessen war, die Beziehungen zu deutschen Soldaten oder mit von Deutschland geförderten flämischen Separatisten unterhielten. Frankreich würdigte den Beitrag seiner Kolonialsoldaten zur Kriegsführung, für die Russen stand der Erste Weltkrieg im Schatten der bolschewistischen Oktoberrevolution von 1917. Und in Großbritannien sahen einflussreiche Stimmen im Ersten Weltkrieg den Beginn eines langen Niedergangs und die Anfänge einer Suche nach dem Platz des Landes in der Welt, die mit dem Brexit an Brisanz gewonnen hat.
„Diese Unterschiede zwischen den Ländern darf man nicht leugnen, weil das Abwehrreaktionen hervorruft“, mahnt Historiker Leonhard. „In der Erzählung von Europa als Ausgangspunkt zweier Weltkriege und der europäischen Integration als Überwindung allen Übels mögen sich einige Politiker wiederfinden, aber nicht die Mehrheit der Menschen in ihren Ländern.“
Dennoch gebe es Kriegserfahrungen, die alle ehemaligen Kriegsteilnehmer beträfen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß: der Zusammenbruch der Imperien der Habsburgermonarchie, des Zarenreichs sowie des Osmanischen Reichs, der Konflikträume wie den Nahen Osten und die Ukraine hinterlassen hat, die uns bis heute mit dem Ersten Weltkrieg verbinden.
So sehen das auch die Bundesregierung und von ihr geförderte Einrichtungen wie das „Deutsche Historische Museum“, wo man 2018 „internationale Aspekte und gegenwärtige Herausforderungen“ des Ersten Weltkrieges diskutieren will. Im Schatten des Berliner Museums versuchen das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa oder das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung den 100. Jahrestag des Kriegsendes 1918 und seine Folgen zu nutzen, um Entscheidern aus Politik und Wirtschaft Erträge einer modernen Osteuropaforschung vorzuführen.
Gedenken kann doch verbinden
Beim breiten Publikum könnten es derartige Angebote aber schwer haben, denn 2018 jährt sich auch die Novemberrevolution zum 100. Mal – und so erinnern die politischen Ereignisse von damals vor allem an die politische Instabilität.
Auf den ersten Blick scheint es Parallelen zu geben zur derzeit schwierigen Regierungsbildung und zum Aufstieg der AfD. „Wir sind in Deutschland schnell bei der Frage: Sind wir auf dem Weg in Weimarer Verhältnisse?“, sagt auch Historiker Leonhard – und wehrt ab: „Diese Krisenrhetorik wird der Bundesrepublik nicht gerecht.“
Deutschland leide weder unter Hyperfinflation noch unter den Bedingungen eines Friedensvertrags. „Die Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg hilft uns vor allem, uns dieser Unterschiede bewusst zu werden“, sagt Leonhard: „Geschichte wiederholt sich nicht, und deshalb können wir dem Ersten Weltkrieg auch keine Antworten abringen, wie wir den Nahen Osten befrieden“.
Wenn man aber aus der Geschichte nichts lernen kann, wenn ein gemeinsames Gedenken Europas an nationalen Erinnerungen scheitert, warum dann all die Forschungsgelder und Podiumsdiskussionen, die Ausstellungen und Spitzentreffen? Weil Gedenken eben doch verbinden kann: „In allen Ländern gerieten die Heimatfronten in den Blick, Kriegsopfer statt –helden, Frauen und Kolonialsoldaten statt weiße Militärführer“, fasst Historiker Leonhard 100 Jahre Forschung und Gedenken an den Ersten Weltkrieg zusammen. Man könnte auch sagen: In der Erinnerung ist heute Platz für (fast) alle.
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