10 Jahre SPD an der Macht: Der Riss durch die Sozialdemokraten
Endlich der miefigen Kohl-Ära frische Politik entgegensetzen. Das wollten auch Ottmar Schreiner und Walter Riester. Heute verkörpern sie die Lager in der SPD: Pro und Contra Agenda 2010.
Ottmar Schreiner ist braun gebrannt. Er war gerade in der Türkei. Er lässt sich in ein braunes Ledersofa fallen, steckt sich eine türkische Marlboro an und verströmt eine Art Gewerkschaftsgemütlichkeit. Das Sofa steht in seinem Berliner Abgeordnetenbüro und sieht aus, als wäre es schon vor dreißig Jahren schwer aus der Mode gewesen. "Das ist die Couch von Willy Brandt, aus seinem Abgeordnetenbüro in Bonn", sagt Schreiner.
Anhänger der Latte-Macciato-Fraktion würden dieses Ding - Willy Brandt hin oder her - umgehend auf den Sperrmüll befördern. Aber hier geht Geschichte vor Stil. Wahrscheinlich ist Ottmar Schreiner ein Traditionalist.
Vor zehn Jahren, am 27. September 1998, war Schreiner in seinem Wahlkreis, in Saarlouis im Saarland. "Es herrschte Aufbruchstimmung", sagt er. Rot-Grün regierte, endlich nach 16 Jahren Kohl. Wer ihn nach der Bilanz von zehn Jahren SPD-Regierung fragt, kann sich auf Zuhören einstellen. Denn was folgt, ist ein Trommelfeuer von Argumenten und Zahlen, mit einer Botschaft: Es war ein Desaster.
Die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich ist größer geworden. Der Niedriglohnsektor ist, unter Rot-Grün und beschleunigt durch Hartz IV, explodiert. Die Mittelschicht schwindet. Die Reallöhne sind gesunken. Sieben Millionen leben heute von 400-Euro-Jobs. Leih- und Zeitarbeit sind Massenphänomene geworden. Die SPD hat eine Steuerpolitik für Reiche und Unternehmen gemacht. Und gegen Rentner. Massenhafte Altersarmut ist in der Zukunft kaum noch aufzuhalten. So sieht es Ottmar Schreiner.
Der Verrat der SPD
"Es war immer sozialdemokratisch, dass der Staat die Gerechtigkeitslücken schließt, die der Markt hinterlässt. Doch seit 1998 hat der Staat die Gerechtigkeitslücken vergrößert", sagt er. Weil die SPD, vor allem unter Clement seit 2002, "nicht mehr gute Arbeit wollte, sondern irgendeine". Das war der Verrat der SPD an sich selbst. Deshalb hat die Partei mehr als 200.000 Genossen verloren. Deshalb ist die Linkspartei entstanden. Das Bild, das Schreiner malt, ist nicht grau. Es ist tiefschwarz.
Schreiner hat stets versucht, das Unheil aufzuhalten. Er hat einen Sonderparteitag wegen der Agenda 2010 initiiert - und dort gegen Schröder verloren. Kürzlich hat er ein viel beachtetes Buch geschrieben, eine präzise, faktenreiche Abrechnung mit der Agenda. Auch in liberalen Zeitungen war zu lesen, dass vieles einfach stimmt.
Aber warum ist all das passiert? Warum hat Schreiner immer verloren, obwohl vieles an seiner Kritik doch offenkundig richtig ist? Weil Schröder "die SPD mit Rücktrittsdrohungen erpresst hat", sagt er. Weil die SPD-Spitze den Einflüsterungen der Neoliberalen erlegen ist. Weil nach Lafontaines Demission 1999 die innere Balance der SPD zerbrochen ist. Aber trotzdem bleibt es ein Rätsel, wie die SPD-Minister blindlings diese irrsinnige Abfolge von Fehlentscheidungen treffen konnten.
Früher galt Schreiner als Mann der Mitte, heute als Linker
Ottmar Schreiner ist seit 39 Jahren SPD-Mitglied. In den 90ern galt er in der SPD eher als Mann der Mitte, heute wird er, sagt er kopfschüttelnd, als eine Art "linksradikale Speerspitze" betrachtet. Ottmar Schreiner hat eine Botschaft. Er will überzeugen. Aber zwischen den Sätzen macht sich manchmal eine Ratlosigkeit breit, wie die SPD derartig die Orientierung und ihren inneren Kompass verlieren konnte. In solchen Momenten wirkt er wie jemand, der übrig geblieben ist.
Schreiner ist Chef der AfA, die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen. Seine Argumente kommen in SPD-Ortsvereinen gut an. Doch in der Fraktion und Parteispitze ist er ein Außenseiter. Nur Schreiner hat im SPD-Präsidium gegen Franz Müntefering als SPD-Chef gestimmt. Und auch in der etablierten SPD-Linken, die sich mit der kosmetisch gelifteten Agenda 2010 arrangiert hat, ist er ein Einzelkämpfer.
Manche, wie der Ex-Arbeitsminister Walter Riester, halten ihn für strukturkonservativ. "So, strukturkonservativ", sagt Schreiner und verengt seinen Mund zu einem maliziösen Lächeln. Dann macht er eine Pause und spricht den Satz, der ihm auf der Zunge liegt, nicht aus. Um sich nicht dauernd zu wiederholen.
"Ich hoffe, Ottmar bleibt in der SPD. Aber viele seiner Ansichten passen besser in die Linkspartei", sagt Walter Riester. Riester ist ein freundlicher, älterer Herr mit wachen Augen. In seinem Büro stehen keine Möbel aus den 70er-Jahren, es hängen kühl-moderne Kunstfotografien an der Wand. Er kommt fünf Minuten zu spät und entschuldigt sich. Er entschuldigt sich überhaupt oft.
"So naiv war ich"
Am 27. September 1998 kam er nachmittags in die SPD-Zentrale in Bonn. Dort sagten ihm Journalisten, dass Rot-Grün wohl gewonnen hat. Riester war völlig perplex. "Ich hatte wie jeder TV-Zuschauer gedacht, dass es Ergebnisse erst nach sechs Uhr gibt. So naiv war ich", sagt er.
Riester war Vizechef der IG Metall und neu im Politbusiness. Manche sagten, dass er zu unerfahren, zu klug und zu offenherzig war, um Arbeitsminister unter Schröder zu sein. Denn dort verlief die Front. Das Feuer kam von allen Seiten: von Gewerkschaften und Unternehmern, Medien und SPD. 1999 versuchte Riester den Arbeitsmarkt neu zu ordnen, Minijobs sozialversicherungspflichtig zu machen und Scheinselbstständigkeit zu bekämpfen. Und die gesetzliche Rente mit einer kapitalgedeckten zu ergänzen.
SPD- und Gewerkschaftsfunktionäre bekämpften die Rentenreform. Die deutschen Verleger bekämpften das Gesetz gegen die Scheinselbstständigkeit. In einer Nachtsitzung schlugen sie ihm einen Deal vor: kein schlechtes Wort über das neue Gesetz in den Medien - aber nur, wenn das Gesetz nicht für die Verleger gilt. Denn die fürchteten, tausende freie Mitarbeiter einstellen zu müssen. Die Empörung über diese Szene wirkt bei Riester auch nach fast zehn Jahren taufrisch. "Ich habe denen gesagt: Wenn es in diesem Staat so läuft, will ich nicht mehr Minister sein." Und: "Danach war ich in vielen Redaktionen zum Abschuss freigegeben."
Der Vater der Altersarmut
Riester kann lange und detailliert beschreiben, was er bei Scheinselbstständigkeit, 620-Mark-Jobs und Rente wollte. Das, was schließlich herauskam, war meist etwas anderes. Das Muster seiner Erzählungen ist: Er wollte das Richtige und ist irgendwie zwischen die Machtblöcke geraten, zwischen Lobbygruppen und SPD-Betonköpfe, die Parteitagsbeschlüsse mit der Wirklichkeit verwechselten. "Und dann stand ich da." Alleine.
Vielleicht verkörpert keiner das Scheitern der SPD seit 1998 so wie er. Er wollte eine zeitgemäße Arbeitsmarktpolitik, die dem globalisierten Kapitalismus, den geschwächten Gewerkschaften und einer alternden Gesellschaft entspricht. Aber irgendwas ist schiefgegangen. Denn dass der Arbeitsmarkt "ausgefranst" ist - das sieht auch Riester. Es gibt "zu viele Billigjobs ohne Rentenbeiträge". Und es wird Altersarmut geben.
Er war vier Jahre Minister. Es waren, sagt er, die "härtesten in meinem Leben". Vielleicht war er zu weich, zu selbstkritisch für den Job. 2002 las er in der Zeitung, dass Schröder ihn feuern will. Er glaubte es nicht. Dann wurde er ins Kanzleramt beordert. "Für Schröder war das ein schweres Gespräch", sagt er. "Wir kamen ja gut miteinander klar." Walter Riester aber macht es niemand schwer. Er bedauert sogar seinen Chef, weil der ihn vor die Tür setzt.
Nachbessern war der Fehler, nicht die Agenda
Riester sieht auch Fehler der SPD - in Details. Die Richtung aber stimmte. Auch bei der Agenda 2010, die sein Nachfolger Wolfgang Clement exekutierte. "Wenn wir konsequent dabei geblieben wären, wären wir heute die stärkste Sozialdemokratie in Europa", sagt er. Die SPD aber hat ihre Erfolge kaputtgeredet. Obwohl es seit 15 Jahren nicht so wenig Arbeitslose gab. Sie hat das Arbeitslosengeld wieder verlängert, sie hat gewankt, statt durchzuhalten.
Das war der Fehler, nicht die Agenda. Die kapitalgedeckte Rente - bekannt als Riester-Rente - hält er für nachhaltig und zukunftsweisend. 80 Milliarden Euro pumpt der Staat in die Rentenkassen, nur 2,4 Milliarden in die Riester-Rente. Die trotzdem ein durchschlagender Erfolg ist. So sieht er es.
"Walter Riester", sagt Ottmar Schreiner, "ist der Vater der Altersarmut." 2001 wurde die Rente gekürzt. Dafür gibt es nun die Riester-Rente, die von der Mittelschicht genutzt wird und nicht von der Unterschicht, die sie bräuchte. So sieht es Schreiner, der die kapitalgedeckte Rente für ein Geschenk an die Versicherungskonzerne hält. 2009 werden dafür schon, so Schreiner, 12,5 Milliarden Euro Steuergelder verwandt. Während gleichzeitig das Rentenniveau sinkt. "Das ist Politik paradox" sagt Schreiner.
Am 27. September 1998 waren sich Riester und Schreiner noch ziemlich ähnlich. Beide zählten zum gemäßigt linken Flügel. Schreiner galt keineswegs als Außenseiter - in den 90ern hatte er auch mal für eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten plädiert. Wäre Riester bei der IG Metall geblieben, hätte die Wut über die SPD, die Rentenpolitik und Hartz IV als Gewerkschaftler gesehen, würde er dann die Agenda verteidigen, als wären es die Kronjuwelen? Und wenn Schreiner als Staatssekretär im Arbeitsministerium im Dauerfeuer von Bild und meuternder SPD-Basis gestanden hätte, würde er dann so hart urteilen?
Doch heute ist die Kluft tief. Riester hält die Agenda-Kritik für einen Selbsthass-Reflex, Schreiner findet das Agenda-Lob realitätsblind. Es ist wie bei einem Paar, das sich gerade trennt. Man kann sich noch drauf einigen, wo man im Urlaub war. Aber wie das Essen, das Hotel, das Wetter war - dazu gibt es immer zwei entgegengesetzte Versionen. Und keine gemeinsame Erzählung mehr.
Der Zwist zwischen den Riesters und den Schreiners in der SPD ist kein normaler Flügelstreit. Es geht um die Frage, was die SPD sein soll. Ob sich die SPD weiter an dem "großen Kern der Industriearbeit" orientiert, der, so Schreiner, trotz Wissensgesellschaft bleiben wird. Und eisern den Sozialstaat verteidigt. Oder ob sie ihre Traditionen über Bord wirft, um in der postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft mithalten zu können. Die Agenda 2010 war erst die Ouvertüre. Der Kampf geht weiter.
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