1. Mai in Hamburg: Auf der Reeperbahn abends um acht
In St. Pauli demonstrieren rund 700 Menschen trotz Verbots. Die Polizei stellt sich massiv entgegen. Nach kurzer Eruption beruhigt sich die Lage.
Hamburg taz | Die erste Durchsage kommt nach einer Stunde aus dem Lautsprecherwagen der Polizei: „Diese Versammlung ist aufgelöst. Entfernen Sie sich, oder wir setzen Wasserwerfer ein.“ Letzteres ist man in Hamburg gewöhnt, aber die Androhung nicht unbedingt schon mit der ersten Durchsage. „Grund dafür ist der Infektionsschutz“, sagt die Polizei. Ende der Durchsage. Anfang des Katz-und Maus-Spiels zwischen Linken und Polizist*innen.
Die anittimperialistische Gruppe Roter Aufbau, die am 1. Mai in Hamburg meistens die größte Menschenmenge auf die Straße bringt, hatte um 20 Uhr auf die Reeperbahn mobilisiert. Eine Demonstration war von der Versammlungsbehörde verboten worden, das Verwaltungsgericht hatte das bestätigt. Auf den Gang vor das Oberverwaltungsgericht verzichten die Aktivist*innen wegen Chancenlosigkeit. Und auf eine legale Kundgebung mit wenigen Teilnehmer*innen ließen sie sich nicht ein.
„Das hat dann nichts mehr mit Versammlungsfreiheit zu tun“, kommentiert der Rote Aufbau auf seiner Internetseite. Auf eine Karikatur der Versammlungsfreiheit habe man keine Lust. Falls wegen zu hoher Polizeipräsenz nicht alle zusammen auf der Reeperbahn demonstrieren könnten, solle man sich in Kleingruppen über das Viertel verteilen und „kreativ sein“.
So bekommt Hamburg am Abend doch noch ein bisschen Krawall und Action, nachdem der Tag ruhig geblieben war. Als in der Dämmerung schwarz gekleidete und teils rot betuchte Kleingruppen auf St. Pauli eintreffen, ist die Polizei schon da.
An jeder Ecke der Reeperbahn steht eine Hundertschaft, Wasserwerfer parken auf beiden Seiten der Partystraße, ein Räumpanzer wartet an der Davidwache. Den ganzen Tag über hatte sich die Polizei deeskalativ verhalten, jetzt ist Schluss damit. So muss man wohl das Signal verstehen, dass die Beamt*innen senden wollen.
Rund 700 Demonstrant*innen sammeln sich auf der Straße und auf den Bürgersteigen. Einige trinken Bier, die Stimmung wird zunehmend angespannter. Um 20:50 kommt die zweite Durchsage, auch Schaulustige sollten sich entfernen. „In Kleingruppen kommen Sie durch die Polizeikette, in größeren Gruppen auf keinen Fall“, sagt der Polizist durch den Lautsprecher. „Halt die Fresse“, ruft ein Vermummter.
Ein Böller knallt, ein Rauchtopf raucht
Viele Einzelne entfernen sich, um sich direkt hinter der Polizeikette am Spielbudenplatz wieder zu versammeln. Ein Böller knallt, ein Rauchtopf raucht, Demonstrant*innen rennen weg, Polizeigruppen hinterher. Kurz ist es unübersichtlig, eilig, Polizist*innen drängen die Linken rabiat ab, schubsen sie weg. Zwei Wasserwerfer verdrängen auch die Schaulustigen.
Nachdem auch die gefühlt hundert Polizeiwagen den Demonstrant*innen Richtung Schanzenviertel gefolgt sind, herrscht kurz darauf schon fast wieder Normalität auf der Reeperbahn. Vor dem größten Sexshop der Meile lehnt sich ein Mann mit Zopf und ein zweiter im Hemd auf ein weißes Auto, aus dessen Boxen laute Musik wummert. Eine Gruppe von zehn Personen steht vor dem Kiosk und trinkt Alkohol mit Energydrinks.
Ein Hubschrauber kreist noch, aus den Nachbarstraßen hört man Polizeisirenen. Für einen Freitagabend in Coronazeiten: alles wie immer.
Leser*innenkommentare
HH21037
Folgt denn noch eine Berichterstattung über die Ereignisse im Schanzenviertel und den in teilen gewalttätigen Polizeieinsatz dort?
Anne klein
Das Ziel der Demo war nur Krawallmachen oder worum ging es den Demonstranten konkret?
margo
Wer bei der Hamburger Polizeiführung ist denn auf die Idee gekommen, dort Wasserwerfer auffahren zu lassen und deren Einsatz anzudrohen? Liegen diesen Leuten gesicherte Erkenntnisse vor, dass unter den Demonstrierenden niemand mit dem Coronavirus infiziert ist? Wenn ja, dürfte das Verbot der Demo rechtswidrig gewesen sein, wenn es sich einzig oder hauptsächlich auf die Infenktionsgefahr stützt. Wenn nein, wäre ein Wasserwerfereinsatz absolut unverantwortlich gewesen und hätte niemals auch nur erwogen werden dürfen. Schließlich handelt es sich ja um eine hoch ansteckende, potentiell tödliche Infektionskrankheit, die vor allem durch Tröpfcheninfektion übertragen wird; eine effektivere Maschine, um eine große Menge Tropfen und Tröpchen in einer Menschenmenge zu verteilen, als ein Wasserwerfer ist kaum vorstellbar. Hätten die Verantwortlichen wirklich Hunderte von Infizierten auf einen Schlag in Kauf genommen? Dann sollte das ein politisches, juristisches und personelles Nachspiel haben.
Löscht die Hamburger Feuerwehr demnächst Brände mit Benzin?
HH21037
@margo Ziel des direkten Wassereinsatzes wäre - so die Polizei - gewesen, dass die Beamten* nicht auf „Infektionsreichweite“ an die Demonstrierenden hätten herangehen müssen.
Um mit dem Wasserwerferwasser Menschen zu infizieren hätte es verseucht sein müssen. Wenn das Hamburger Leitungswasser mit Coronaviren verseucht wäre, hätte man inzwischen davon gehört.
Albrecht von Aschenfels
@margo Das nennt sich Abschreckung. Wenn ich zeige, dass ich gerüstet bin, überlegen es sich einige Unentschlossene anders und die Vorsichtigen überzeugen vielleicht noch ein paar Wagemutige auch abzulassen.
Kann man auch negativer ausdrücken, aber im Prinzip ändert sich nichts am Ziel. ;)
Nikolausi
@margo Wenn sich 700 Menschen dicht nebeneinander zu einer nicht genehmigten Demo in Zeiten einer hochinfektiösen Pandemie treffen ist das zuerst das Moment, das juristisch verfolgt werden muss. Der Einsatz der Wasserwerfer scheint ja auch angekündigt worden zu sein, da kann man sich als mündiger Bürger ja entfernen. Außerdem -so zeigt es das Foto - sind ja wohl schon traditionell am 1.Mai die allermeisten Teilnehmer mit "Mund-/Nasenschutz" unterwegs, sprich vermummt. Wo also ist das Problem?