1. Mai in Berlin: Alles nur noch Tradition
Erst Wedding und Flinta, dann DGB und Revolution: Neue Ideen für den Tag der Arbeit sind nicht in Sicht. Einzig „MyGruni“ gibt Anlass zur Hoffnung.
Dazu kommt: In Berlin droht der gesellschaftspolitische Rückschritt mit einer konservativen, CDU-geführten Regierung, deren Vorhaben weder den Anforderungen der sozialen Notlage auf dem Wohnungsmarkt noch der Klimakrise entsprechen. Und in Ostdeutschland hat die AfD inzwischen in der Fläche Umfragewerte von 25 Prozent und mehr und strebt zunehmend nach der Macht.
Trotz der brisanten politischen Entwicklungen hält die gesellschaftliche Linke der Stadt an ihren altbekannten Konzepten, Demos und Themen fest. Tradition statt neuer Impulse. Der Protestfahrplan sieht damit aus wie eine Kopie des vergangenen Jahres, und – mit Einschränkungen durch Corona – der Jahre zuvor. Antikapitalistische Demo im Wedding und Flinta-Demo zur Walpurgisnacht, DGB und Grunewald-Demo tagsüber am Tag des 1. Mai. Und abends: heraus zum Revolutionären 1. Mai.
Zu einer Reaktivierung des MyFestes in Kreuzberg nach der erzwungenen Pandemiepause kommt es auch nicht. Ein Antrag der privaten Organisatoren zur Durchführung des von vielen geliebten Straßenfests rund um die Oranienstraße liege dem Bezirk nicht vor, teilte dieser auf taz-Anfrage mit.
30. April, Walpurgisnacht: „Frieden statt Kapitalismus“ – Demonstration von Hände weg vom Wedding (16 Uhr, U-Bhf. Seestraße), Queerfeministische Take back the night-Demo (19 Uhr, Mariannenplatz)
1. Mai, Tag der Arbeit: DGB-Demo „Ungebrochen solidarisch“ (10 Uhr, Platz der Vereinten Nationen); Demo „Reichtum wird enteignet“ (12 Uhr, Johannaplatz,); Revolutionäre 1.-Mai-Demo (18 Uhr, Hermannstraße/Flughafenstraße)
Trutschiger DGB
Es sind nicht nur dieselben Proteste, oftmals mit zeitlos schönen Aufrufen, die wenig mit den aktuellen Entwicklungen zu tun haben, es sind auch die immer selben Akteure. Vorneweg der DGB, der schon in seinem Motto „Ungebrochen solidarisch“ auf Kontinuität statt Aufbruch setzt. Neue Akzente, wie sie sich etwa in der jüngsten Kooperation von Verdi mit Fridays for Future zeigte oder der Versuch, auch jene Arbeiter:innen einzubinden, die sich in direktem Kampf gegen ihre Ausbeutungsverhältnisse etwa bei den Lieferdiensten befinden, sucht man vergebens.
Aber anderes ist wohl auch nicht zu erwarten von einem Gewerkschaftsdachverband, der in Person ihrer Vorsitzenden in Berlin-Brandenburg, Katja Karger, im schwarz-roten Koalitionsvertrag eine Chance erkannte, dass Berlin zur „Hauptstadt der guten Arbeit“ werde. Und von einem DGB, der unverdrossen Redner:innen wie Bundeskanzler Olaf Scholz einlädt, der dieses Jahr in Koblenz sprechen wird.
Doch neue Akteure oder Akzente sucht man auch in der radikalen Linken vergebens. Die tragenden Gruppen der Proteste sind überwiegend nicht jene, die den Ton des Protestgeschehens im restlichen Jahr vorgeben. Beim Blick auf die aufrufenden Gruppen der 18-Uhr-Demo findet sich außer der Migrantifa keine Gruppe, die normalerweise über eine enge kommunistisch-antiimperialistiche Blase hinaus mobilisierungsfähig wäre. Die Gestaltung dieser Demo, die ein Angebot für die ganze radikale Linke sein soll, überlässt die Szene einem Milieu, das selbst in der Szene ein Außenseiterdasein fristet.
An Anziehungskraft verloren hat schon in den vergangenen Jahren die Demo von Hände weg vom Wedding, auch wenn die lokale Organisierung der Gruppe lobenswert ist. Doch in einer Event-Gesellschaft gilt auch für die Linke: Ohne neue Ideen ist es schwierig, Menschen bei der Stange zu halten. Warum da so wenig kommt, ob aus Überlastung, Selbstbeschäftigung oder Ideenlosigkeit, ist die große Frage.
Neue Bündnisse Fehlanzeige
Dabei gäbe es Möglichkeiten genug: Wo bleibt der Schulterschluss mit Arbeiter:innen und Gewerkschaften, etwa in einer Parade der Arbeit, auf der jene Tätigkeiten auf den Schild gehoben werden, die wirklich relevant für die Gesellschaft sind? Wo bleiben kreative Spendenaktionen für Streikkassen hierzulande oder auch in Frankreich? Und warum trägt man nicht den Protest zur entstehenden Bundeszentrale der AfD nach Wittenau?
Der letzte inhaltliche Schwung für den 1. Mai in Berlin feiert derweil sein fünfjähriges Bestehen: die Bespielung des Grunewalds durch die Hedonistische Internationale. Und die hat sich Mühe gemacht mit einem gänzlich neuen Framing: MyGruni nennt sich nun „Reichtum wird enteignet“ (RWE). Für ein Werbevideo hat man sich bei Logo und Werbemittel des gleichnamigen Kohlekonzerns bedient. Dieser erwirkte, sich in seiner Marke verletzt sehend, eine Löschung auf Instragram.
Zu sehen ist das beanstandete Video auf den verschiedenen Kanälen von MyGruni dennoch. Zu Bildern von Bergarbeitern und einem Kraftwerk heißt es da: „Jahrhundertelang haben wir die falsche Kohle abgebaggert. Das hat uns und der Umwelt geschadet.“ Auf Kohleabbau müsse man jedoch nicht verzichten; vielmehr gelte es die „klimaschädlichen Kohlevorkommen“ im Grunewald abzubaggern.
Die reale Grundlage der satirisch aufbereiteten Aktion: der exzessive Lebensstil der Superreichen mit Villen, Jachten und Privatjets, der dazu führt, dass das reichste Prozent der Menschen mehr als doppelt so viel CO2 freisetzt als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.
Der Versuch der thematischen Verbindung von Klassenkampf und Klimapolitik ist zumindest ein Hoffnungsschimmer, dass der 1. Mai das Potential hat sich – bei aller berechtigten Tradition – neu zu erfinden. Auch wenn es in diesem Jahr noch nicht so weit ist.
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