09/11: Nicht alle Italiener sind Amerikaner
„Wir sind alle Amerikaner“ – so titelte nicht nur der Kommentar des Corriere della Sera am 12. September 2001. Über alle ideologischen Fronten hinweg standen Italiens Medien unmittelbar nach „nine-eleven“ an der Seite der USA. Und auf den ersten Blick lebt die große – und seltene – Einigkeit nun zum Jahrestag wieder auf. Fotostrecken ohne Ende in den Sondernummern der politischen Wochenmagazine genauso wie in den bunten Wochenendbeilagen der großen Tageszeitungen illustrieren erneut das Grauen, schaffen Entsetzen über die Täter und Mitleid mit den Opfern; Artikel auf den seit der vergangenen Woche täglich im Corriere della Sera und in der Repubblica – den beiden bedeutendsten Tageszeitungen Italiens – erscheinenden Spezialseiten zum Thema rekonstruieren den Horror in den Twin Towers Minute für Minute, erzählen bis ins letzte Detail den Countdown der Anschläge („-4 Tage“) aus der Sicht der Täter, berichten von wunderbaren Rettungen, von aufopferungsvollen Helden. La Repubblica gönnt zudem pro Tage einem der Wichtigen dieser Welt ein Kästchen. So lernt man, dass der Papst in Castelgandolfo weilte, als er die Nachricht von den Anschlägen erfuhr, und dass er das Naheliegende anordnete: „Lasst uns beten!“
Und doch wird man trotz der Flut von Bildern und Texten den Eindruck nicht los, da gehe eine Medien-Pflichtübung über die Bühne. Hitzig wie in wenigen anderen Ländern setzte im vergangenen Jahr in Italien die Debatte ein, angestoßen von Silvio Berlusconi („die westliche Kultur ist dem Islam überlegen“) im Verein mit Oriana Fallaci, die im Corriere della Sera und später dann per Buch („Die Wut und der Stolz“) eine wüste Attacke gegen die Muselmänner ritt. Ein Jahr später: kaum noch eine Spur von Debatte, wenigstens nicht unter Italienern. Die Bewertung und die Kommentierung bleibt ausländischen Großdenkern von Gore Vidal über Gilles Kepel zu Tahar Ben-Jelloun vorbehalten.
Totgeschwiegen werde Oriana Fallaci, beschwert sich denn auch die stramm rechte, Berlusconi-treue Tageszeitung Libero im Samstags-Aufmacher auf Seite eins („11. September – Mord an der Wahrheit“). Hinter der detailverliebten Erinnerung trete vollkommen zurück, wer der Feind sei: „der Islam, aber auch unser alberner Nihilismus, unser Vergessen von Vaterland und Tradition“. Und im Kommentar auf derselben Seite dürfen sich die Italiener vorrechnen lassen, sie zögen „die Kameltreiber immer noch den Cowboys vor“; der dieser Tage am meisten zu hörende Satz sei: „Die Amerikaner haben sich das selbst eingebrockt.“
Dieser Satz war zwar partout nicht zu vernehmen – ganz Unrecht aber hat Libero nicht. Längst nicht mehr alle Italiener sind noch „Amerikaner“. So bekennt sich Giorgio Bocca im Magazin Espresso zu einem „vernünftigen Antiamerikanismus“, der sich nicht die Frage verbieten lasse, ob der US-Neokolonialismus das geeignete Instrument sei, um den Fundamentalistenterror zu bekämpfen. Italiens Rechtsblätter überbieten sich dagegen mit Treueschwüren. So heißt es im Berlusconi-Newsmagazin Panorama: „Wir werden nie vergessen … Amerika, das uns gestern gegen Nazifaschismus und Stalinismus verteidigt hat, kämpft heute auch für uns gegen den Terrorismus. So wie Israel. Panorama ist es eine Ehre, ein treuer und aufrichtiger Freund Amerikas und Israels zu sein.“ Die überschwänglichen Bekenntnisse der Rechtspresse haben bloß einen Haken: Sie klammern die aktuelle Politik vornehm aus. Was ist mit dem Angriff auf den Irak? Kein Wort dazu – wahrscheinlich weil auch Ministerpräsident Berlusconi sich bisher bedeckt hält.
MICHAEL BRAUN
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