+++ Repressionen in der Türkei +++: Erdoğan hat „Republik der Angst“ geschaffen
Der inhaftierte Oppositionspolitiker Ekrem İmamoğlu (CHP) äußert sich aus dem Gefängnis. Und spricht dabei auch das Ausland an.

Der 53-Jährige wird zurzeit im bekannten Marmara-Gefängnis in Silivri nahe Istanbul festgehalten. Vergangene Woche wurde der beliebte Oppositionspolitiker nach Korruptions- und Terrorvorwürfen festgenommen. Wegen ersterem wurde er später inhaftiert und als Istanbuler Bürgermeister abgesetzt.
Seine Festnahme löste eine Protestwelle mit Zehntausenden Menschen im gesamten Land aus. Die Polizei ging teils brutal gegen Demonstrierende vor. Laut dem türkischen Innenministerium wurden seit Beginn der Proteste fast 1.900 Menschen vorübergehend festgenommen, unter ihnen mehrere Journalisten.
„Die massenhaften Verhaftungen von Demonstranten und Journalisten in den letzten Monaten haben eine abschreckende Botschaft vermittelt: Niemand ist sicher“, schrieb İmamoğlu. „Unter Erdoğan hat sich die Republik in eine Republik der Angst verwandelt.“ Doch die Menschen in der Türkei reagierten mit Widerstand. „Das Zeitalter der unkontrollierten Machthaber verlangt, dass diejenigen, die an die Demokratie glauben, genauso lautstark, energisch und unnachgiebig sind wie ihre Gegner“, so İmamoğlu.
Der Oppositionspolitiker kritisierte dabei auch einen Mangel an Anteilnahme aus dem Ausland: „Aber die Zentralregierungen in aller Welt? Ihr Schweigen ist ohrenbetäubend.“ Washington äußere sich lediglich „besorgt über die jüngsten Verhaftungen und Proteste“ in der Türkei, so İmamoğlu. „Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben die europäischen Staats- und Regierungschefs nicht mit Nachdruck reagiert.“ (dpa)
Anwalt von İmamoğlu festgenommen
Der inhaftierte türkische Oppositionspolitiker Ekrem İmamoğlu hat die Festnahme seines Anwalts bekannt gegeben und dessen sofortige Freilassung gefordert. „Dieses Mal wurde mein Anwalt Mehmet Pehlivan aus erfundenen Gründen festgenommen“, schrieb der mittlerweile abgesetzte Istanbuler Bürgermeister am Freitag im Onlinedienst X.
„Als wäre der Putschversuch gegen die Demokratie nicht schon genug, können sie es nicht tolerieren, dass sich die Opfer dieses Putsches verteidigen“, fügte İmamoğlu hinzu und forderte, dass Pehlivan „unverzüglich freigelassen wird“.
Aus der deutschen Zivilgesellschaft kritisierte der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) die Festnahme aufs Schärfste als „neuen Höhepunkt der Verfolgung“. Vorsitzender Dr. Peer Stolle teilte mit: „So kann es nicht weitergehen, die deutsche Regierung muss jetzt handeln und endlich wirkungsvollen Druck auf das Erdoğan-Regime ausüben, damit die Repressionen eingestellt werden und die freie Advokatur sowie die Demokratie-Bewegung wieder Luft zum Atmen haben.“
İmamoğlu ist der aussichtsreichste Rivale von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und befindet sich im Gefängnis. Seine Festnahme vor mehr als einer Woche löste in der Türkei die größten Demonstrationen seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 aus. Am Sonntag wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen. Seine Partei, die CHP, sprach von einem „Putsch“, mit dem der Erdoğan-Rivale kaltgestellt werden solle. Der Staatschef seinerseits bezeichnete die Proteste wiederholt als „Straßenterror“.
Bereits vor einigen Tagen waren der Präsident der Istanbuler Rechtsanwaltskammer, Prof. Dr. Ibrahim Kaboğlu, und seine Vorstandsmitglieder abgesetzt worden, was der RAV zusammen mit der Vereinigung demokratischer Jurist:innen e.V. (VDJ), der Rechtsanwaltskammer Berlin und der Vereinigung der Berliner Strafverteidiger*innen verurteilt hatte.
Die Regierung geht mit zunehmender Härte auch gegen Medien vor, die über die Proteste berichten. Am Freitag wurden der Journalistengewerkschaft TGS zufolge im Morgengrauen zwei Journalistinnen festgenommen. Anfang der Woche waren bereits elf Journalisten festgenommen worden, darunter der AFP-Fotograf Yasin Akgül. Sie wurden inzwischen wieder freigelassen. (taz/afp)
Vor Groß-Demo am Samstag: Menschenrechtler prangern bisherige Polizeigewalt an
Kurz vor einer geplanten Groß-Demo in der türkischen Millionenmetropole Istanbul haben Menschenrechtsorganisationen die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan aufgefordert, die Angriffe auf friedliche Demonstranten zu stoppen. In der gemeinsamen Erklärung von Human Rights Watch, Amnesty International und 13 weiteren Organisationen hieß es, man sei alarmiert „über die jüngste Eskalation des staatlichen Vorgehens gegen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit nach der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoglu“. Die Proteste werden einer Umfrage zufolge von einer Mehrheit der Türken unterstützt.
Die Polizei geht hart gegen Protestierende vor, manchmal brutal. Der für die größte Oppositionspartei aktive Politiker und Jurist Sezgin Tanrıkulu warf den Einsatzkräften auch sexuelle Gewalt vor. Genaue Zahlen zu verletzten Demonstranten werden nicht veröffentlicht, die Polizei spricht bloß von mehr als 100 verletzten Beamten. (dpa)
Rubio besorgt über Stabilität in der Türkei
US-Außenminister Marco Rubio hat sich besorgt über die Stabilität in der Türkei geäußert. „Wir beobachten das Geschehen. Wir haben unsere Besorgnis zum Ausdruck gebracht“, sagte Rubio am Donnerstag vor Journalisten auf dem Flug von Suriname nach Miami. Washington sehe „eine solche Instabilität in der Regierung eines Landes, das ein so enger Verbündeter ist, nicht gerne“.
Das Nato-Land Türkei ist ein wichtiger Partner der USA und der EU. Ankara wird etwa als Vermittler im Ukraine-Krieg wie auch zur Stabilisierung im Bürgerkriegsland Syrien gebraucht. (afp)
Özdemir: Damit hat Erdoğan nicht gerechnet
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat nach den Worten des Grünen-Politikers Cem Özdemir nicht damit gerechnet, dass die Verhaftung des beliebten İmamoğlu eine derart heftige Reaktion in der Bevölkerung auslösen würde. „Das Ausmaß der Proteste hat das Regime vermutlich überrascht, weil Erdoğan in der Vergangenheit mit seinen Manövern durchgekommen ist“, sagte Özdemir im Interview mit der Nachrichtenagentur AFP.
Dabei sei es keineswegs das erste Mal, dass der türkische Präsident radikal gegen Widersacher vorgeht, sagte der Grünen-Politiker. Mit Selahattin Demirtaş, dem damaligen Vorsitzenden der pro-kurdischen Partei HDP (heute DEM), habe Erdogan „schon einmal einen Konkurrenten quasi aus dem Weg geräumt“.
Demirtaş sitzt demnach bereits seit 2016 „ohne nachvollziehbaren Grund“ im Gefängnis. „Mich ärgert, dass darüber kaum jemand spricht“, fügte der Politiker mit türkischen Wurzeln hinzu, der derzeit Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft sowie für Bildung und Forschung ist. (afp)
BBC-Journalist aus Türkei abgeschoben
Ein Journalist des britischen Senders BBC ist festgenommen und aus der Türkei abgeschoben worden. Er hatte sich nach Angaben des Senders mehrere Tage in der Türkei aufgehalten, um über die anhaltenden Proteste zu berichten, die durch die Verhaftung und Absetzung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu in der vergangenen Woche ausgelöst worden waren.
Die BBC erklärte: „Heute Morgen haben die türkischen Behörden den BBC-Korrespondenten Mark Lowen aus Istanbul abgeschoben, nachdem sie ihn am Vortag aus seinem Hotel geholt und 17 Stunden lang festgehalten hatten.“ Am Donnerstagmorgen wurde ihm demnach eine schriftliche Mitteilung vorgelegt, dass er wegen „Gefährdung der öffentlichen Ordnung“ abgeschoben wird.
Das türkische Kommunikationsdirektorat sagte, er sei nicht im Besitz einer gültigen Presseakkreditierung gewesen. Seine Abschiebung in Verbindung mit Berichten über Proteste und Journalismus zu bringen, sei „Desinformation“, schrieb die direkt Präsident Erdoğan unterstellte Behörde.
Mark Lowen sagte laut BBC: „Die Festnahme und Abschiebung aus dem Land, in dem ich zuvor fünf Jahre lang gelebt habe und das ich sehr schätze, war äußerst schmerzhaft. Pressefreiheit und unparteiische Berichterstattung sind für jede Demokratie von grundlegender Bedeutung.“
Gegen den türkischen Sender Sözcü Tv wurde eine Sendesperre für zehn Tage verhängt, wie die Nachrichtenagentur Anandolu berichtete. Die türkische Medienaufsicht RTÜK verhängte demnach außerdem gegen insgesamt vier Sender Geldstrafen und teilweise Programmaussetzungen.
Mehrere Journalisten waren im Zusammenhang mit den Protesten festgenommen und teilweise inhaftiert worden. Sieben wurden am Donnerstagmorgen in Istanbul aus der Untersuchungshaft entlassen, darunter ein Fotojournalist der französischen Nachrichtenagentur AFP.
Die Organisation Reporter ohne Grenzen verurteilte die Verhaftung der Reporter. „Es gibt kein Ende der Verhaftungen von Journalisten“, sagte ihr Vertreter in der Türkei, Erol Önderoğlu. Die türkische Journalistengewerkschaft forderte ein Ende „dieser ungesetzlichen Verhaftungen“. Nachrichtenmedien müssten ihrer Arbeit nachgehen können.
Die Pressefreiheit steht in der Türkei bereits seit Jahren unter Beschuss. (dpa)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politik für die Zukunft
Warum ist Robert Habecks Politikstil gescheitert?
Immer mehr Kirchenaustritte
Die Schäfchen laufen ihnen in Scharen davon
Umstrittene Rede bei „Freie Bauern“-Demo
Naturschützer mit Hexenverbrennern gleichgesetzt
SPD-Vorsitzende Saskia Esken
Sie ist noch da
Linksfraktionschefin Heidi Reichinnek
„Ich freue mich darauf, zu nerven“
Vorsitz der UN-Vollversammlung
Und jetzt alle zusammen: Annalena Baerbock for President!