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Aus taz FUTURZWEI

Fragen der Zeit Ist Jack Kerouac noch wichtig?

Zum 100. Geburtstag von Jack Kerouac geht Peter Unfried der Frage auf den Grund, welche Bedeutung der Klassiker „On the Road“ heute noch hat.

»The boys were sleeping, and I was alone in my eternity at the wheel, and the road ran straight as an arrow«: Jack Kerouac – On the Road Foto: Werner Amann

Von Peter Unfried

Wenn ich früher nach San Francisco kam, fuhr ich zuerst nach Haight-Ashbury raus, um in und am Golden Gate den »Summer of Love« von 67/68 zu spüren, und dann ins italienische North Beach, wo die Beatniks waren. Dort ging ich direkt in Lawrence Ferlinghettis »City Lights Book Store«, und danach in die kleine und schmutzige Jack Kerouac Alley, die daneben liegt. Als absoluten Höhepunkt jeden San-Francisco-Ausflugs stellte ich mich unter Kerouacs Straßenschild und seufzte: »Aaaaah.« Damit offiziell klar war, dass das jetzt echt ein bedeutender Moment war.

So hatte ich in meinen frühen Zwanzigern auch Kerouacs Roman On the Road gelesen, als Aaaaah-Erlebnis. Das Buch war für Leute wie mich aufgeladen mit Bedeutung, und ich wollte etwas von dieser Bedeutung spüren und abhaben. Für die Jugend: On the Road war in der Top Ten der Bücher, die man im letzten Jahrhundert als Anti-Establishment-Epigone gelesen haben musste. Von Dylan über Bowie und Hunter S. Thompson bis zu Jim Morrison waren alle unsere Helden von Kerouac beeinflusst. In fact hätte es laut Ray Manzarek (Namen gegebenenfalls googeln) die Doors ohne On the road gar nicht gegeben! »Wat für e' Booch!«, schwärmt heute noch Wolfgang Niedecken (das war damals zeitweise der Oberbarde von uns Anti-Establishment-Epigonen).

Am 12. März 2022 ist der 100ste Geburtstag von Jack Kerouac, weshalb ich dachte, ich lese vielleicht nach Jahren mal wieder rein in On the Road. Es beginnt gleich mit einem wunderbaren Satz: »I first met Dean Moriarty not long after my wife and I split up.« Da will man doch mehr wissen! Die beiden sind dann ziemlich viel und oft unterwegs, von der Ost- zur Westküste und zurück, hören Jazz, nehmen Drogen, haben Sex mit diversen Leuten und Geschlechtern, lesen Gedichte. Also alles heute völlig normal. Vom Gedichte-Lesen mal abgesehen, das ist eindeutig kinky.

Beat war ein Gegenentwurf zum Leben in der kapitalistischen amerikanischen Gesellschaft

Aber Beat war in den 1950er-Jahren, also sogar vor JFK, MLK, RFK (Akronyme gegebenenfalls googeln), ein Gegenlebensentwurf zur ziemlich unentspannten Dwight- und Mamie-Eisenhower-Gesellschaft, der Anfang des Versuchs, jenseits von »capitalist America« alternative Werte und Lebensstile zu finden und zu feiern. Die fand man auch, aber eben meist nur »außerhalb« der Gesellschaft; ein strategischer Kurzschluss, an dem wir heute noch zu knabbern haben.

Eigentlich geht es in On the Road gar nicht sehr um Gesellschaftskritik, sondern um das Individuum und seinen Drang, den Möglichkeitsraum der persönlichen Freiheit auszudehnen. Dieser Drang treibt den Ich-Erzähler (Sal Paradise) und seine Freunde Neil Cassady (Dean Moriarty) und Allen Ginsberg (Carlo Marx) an. Was sie aber nicht schert, und das war mir damals nicht klar, weil es mich auch nicht scherte: Ihr Ausbau der persönlichen Freiheit kann sich, Eisenhower hin oder her, nur auf der Grundlage einer liberaldemokratisch verfassten Gesellschaft vollziehen. Sie aber sehen nur die eine Seite der Freiheit – ohne dafür eine Gegenleistung zu bringen, also die Freiheit, auch in der Verantwortung gegenüber den anderen Leuten zu verstehen und zu leben. Diese Ignoranz gegenüber den Grundlagen der eigenen Freiheit war damals linksalternative und ist heute rechtsalternative Kultur.

Naja, wenn man jetzt ganz uncharmant wäre, könnte man sagen, dass On the Road den »test of time« nicht bestanden hat. Aber was soll das bringen? Sagen wir: Es ist kein Klassiker, es ist Bestandteil einer Welt, die es nicht mehr gibt, die aber auch dank On the Road eine andere und – trotz allem – bessere geworden ist.

Letztlich, denke ich, erzählt On the Road vom Versuch, Bedeutung im Leben zu finden. Doch diese Bedeutung findet man nicht, indem man nach San Francisco fährt und sich in die Jack Kerouac Alley stellt. Überhaupt darf man sich nicht nur bewegen lassen. Man muss sich bewegen lassen, um sich dadurch selbst bewegen zu können.

PETER UNFRIED ist Chefredakteur der taz FUTURZWEI.

Dieser Beitrag ist im März 2022 in taz FUTURZWEI N°20 erschienen.