: Bomben aus Papier
„Mörder!“, skandieren die Demonstranten in Skopje. Sie glauben, die Regierung hat Terroristen gedungen. Oder schleusen die Albaner UÇK-Kämpfer ein? Die Opposition ruft zur Großdemonstration auf
■ Die Konflikte zwischen der slawisch-mazedonischen Mehrheitsbevölkerung (64 Prozent) und den Albanern (rund 25 Prozent) in Mazedonien verschärften sich Ende der 1990er Jahre. Nachdem serbische Truppen 1999 rund eine Million Albaner aus dem Kosovo vertrieben hatten, strömten etwa 400.000 Flüchtlinge in die Albanergebiete in Mazedonien.
■ Die slawisch-mazedonische Bevölkerung fühlte sich überfordert. Am 4. Februar 2001 wurde ein junger Albaner von der mazedonischen Polizei erschossen, das Dorf mit Granaten beschossen. Im Gegenzug schossen Albaner auf mazedonische Regierungsvertreter und bildeten – nach dem Vorbild Kosovos – eine Nationale Befreiungsarmee namens UÇK. Die zählte schon bald Zehntausende Kämpfer.
■ Das mazedonische Militär reagierte mit Artillerie- und Luftangriffen. Die UN – das benachbarte Kosovo war Protektorat, Nato-Truppen waren in Mazedonien stationiert – zwang beide Seiten an den Verhandlungstisch. Im Juni 2001 begannen die Verhandlungen von Ohrid. Nach dem im August verabschiedeten Vertrag verpflichteten sich die Albaner, die Waffen niederzulegen und die UÇK aufzulösen. Im Gegenzug wurde eine Generalamnestie erlassen. Die im kommunistischen Jugoslawien herrschende Gleichberechtigung der Volksgruppen sollte wiederhergestellt werden. Doch der Vertrag wurde bis heute nicht vollständig umgesetzt. (er)
AUS SKOPJE und Kumanovo LAURA MESCHEDE
Die Polizei hat einen Teil von Kumanovo abgesperrt, mit Kalaschnikows bewachen Polizisten die Zugänge, lassen niemanden hinein und niemanden hinaus. Gewehrfeuer ist zu hören. Eine Gruppe von etwa 20 Menschen läuft hektisch durch die Straßen, in ihren Händen haben sie Plastiktüten mit Klamotten, die Kinder weinen. „Um fünf Uhr morgens haben sie plötzlich angefangen, neben unserem Haus zu schießen“, sagt die Frau, ihre Stimme zittert. „Aber die Polizei hat uns nicht rausgelassen aus dem Gebiet.“ Warum? „Ich weiß es nicht.“ Was passiert hier? „Ich weiß es nicht“, sagt sie, ihre Hände beben. „Niemand sagt uns hier irgendetwas.“
Ein etwa vierzigjähriger Mann, der neben ihr läuft, schaltet sich ein: „Das ist die Regierung“, sagt er. „Die wollen von ihren Problemen ablenken.“ Die Frau nickt hektisch. „Das Militär ist einfach aufgetaucht und hat angefangen, um sich zu schießen“, sagt sie. „Denen ist vollkommen egal, wen sie treffen.“ Sie wollen jetzt versuchen, nach Skopje zu kommen. „Aber mein Auto ist noch da drinnen. Wie soll ich hier nur wegkommen?“
Es ist Samstag, der 9.Mai, und im mazedonischen Kumanovo scheint der Krieg ausgebrochen. Oder auch nicht. So genau weiß das hier niemand. Die Menschen wissen nur, dass plötzlich das Militär aufgetaucht ist. Und dass hier geschossen wird seit den frühen Morgenstunden. Die Polizei gibt keine Informationen heraus. Man solle einfach weitergehen, heißt es, wenn man nach dem Grund für den Einsatz fragt. Das Fernsehen spricht von einer „bewaffneten Gruppe“, die Anschläge auf „staatliche Einrichtungen“ geplant hätte. Mehr Informationen gibt es nicht.
Skopje, vier Tage zuvor – das Regierungsgebäude ist bereits gelb gesprenkelt, als die Demonstranten auf Salatköpfe umsteigen. Ihnen sind die Eier ausgegangen. Der 22-jährige Andrej steht mit einer Gruppe von Freunden inmitten der protestierenden Menge, sie teilen sich einen Eisbergsalat, ein Drittel für jeden, der einmal in Richtung Regierung schmeißen möchte. In weniger als drei Stunden werden hier brennende Barrikaden stehen, aber noch ist alles friedlich. In der ersten Reihe streckt ein junger Mann den Polizisten einen Blumenstrauß entgegen. „Keine Wahrheit, kein Frieden“, skandieren etwa 2.000 Leute im Chor, „Rücktritt!“ Und immer wieder: „Mörder!“
Vor vier Stunden hat Oppositionsführer Zoran Zaev die neuesten mitgeschnittenen Regierungstelefonate veröffentlicht. Es ging um den Mord an dem 22-jährigen Martin Neshkovski, der von einem Sicherheitsbeamten zu Tode geprügelt wurde. „Wir schieben einfach dem Jungen die Schuld an seinem Tod zu“, sagt darin der Geheimdienstchef. Und die Innenministerin plant, dem Hauptverdächtigen nach seiner Verurteilung Hilfe anzubieten, wenn er im Gegenzug sofort ein Geständnis unterschreibt.
Explosive Mitschnitte
„Bomben“ werden die mitgeschnittenen Regierungstelefonate genannt, die Oppositionschef Zoran Zaev in regelmäßigen Abständen veröffentlicht. Fast jede der bisherigen „Bomben“ hat einen Skandal in Mazedonien ausgelöst. Regierungschef Nikola Gruevski bestreitet die Echtheit der Telefonmitschnitte nur halbherzig. Einige seien wahr, andere seien manipuliert worden, heißt es von seiner Seite. Gruevski regiert mit dem konservativen Bündnis VMRO-DPMNE Mazedonien sei 2006. Seit den letzten Wahlen boykottiert die Opposition die Arbeit im Parlament, weil sie der Regierung Wahlfälschung vorwerfen. Es ist eine der größten innenpolitischen Krisen des Landes seit der Abspaltung von Jugoslawien im Jahr 1991.
In Kumanovo haben sich etwa hundert Leute vor einer der Polizeiabsperrungen versammelt. Es sind fast ausnahmslos Albaner – der umkämpfte Bereich liegt im albanischen Teil der Stadt. Ein Mann steht fast direkt vor der Absperrung, er hat Tränen in den Augen. „Meine Familie ist noch da drin“, sagt er und deutet auf das Gebiet. Immer wieder bebt der Boden wegen der Schüsse. Der Mann zuckt nicht, er stiert geradeaus. „Sie lassen mich nicht rein und sie lassen meine Familie nicht raus.“ Über den Häusern steigt Rauch auf, ein Krankenwagen kommt aus der Absperrung und biegt um die Ecke, am Himmel fliegt eine Drohne über dem Gebiet. „Die Regierung will einen Krieg gegen uns Albaner anfangen“, sagt der Mann. „Sie haben die Terroristen dafür bezahlt, dass sie angreifen. Das ist eine klare Nachricht an uns: Wir sollen still bleiben und nicht aufmucken.“
In den letzten Tagen ist die Situation in Mazedonien immer weiter eskaliert. Nach den Protesten wegen der „Neshkovski-Bombe“ hat es jeden Abend Demonstrationen in der Hauptstadt Skopje gegeben, am Freitag dann auch in anderen Städten. Für den 17. Mai hat die Opposition eine Großdemonstration angesetzt, es werden 40.000 Menschen erwartet. Gerüchten zufolge wollen sie in den Tagen vorher eine „Bombe“ mit besonderem Skandalgehalt veröffentlichen, die speziell die Albaner im Land sehr wütend machen könnte. Fast meint man, die Opposition und die Demonstranten am Thron der Regierung sägen zu hören. Es wäre die perfekte Zeit für eine terroristische Gruppe, einen Anschlag zu verüben.
„Ich glaube, dass die Regierung die Attacke inszeniert hat“, sagt Andrej. „Hier in Mazedonien kann man alles kaufen, auch Terroristen.“ Andrej sitzt im Schneidersitz auf der Couch in der WG eines Freundes. Thema des Abends ist die Lage in Kumanovo. Sie trinken Rotwein, aus den Boxen dröhnt Rockmusik, an der Wand hängt ein großes Poster von Jimi Hendrix. Die Stimmung ist gedrückt, immer wieder kommen die Gespräche auf den Militäreinsatz. Sie diskutieren Ungereimtheiten: Wenn die Angreifer nicht gekauft waren, warum hat der Einsatz dann so lange gedauert? Aber wenn sie gekauft waren, wie konnte dann die Polizei zulassen, dass Kollegen erschossen wurden?
Nach Angaben des Innenministeriums sind bei dem Angriff 8 Polizisten und 14 Angreifer zu Tode gekommen, 30 Angreifer sollen festgenommen worden sein, 18 Kosovaren, die übrigen albanische Mazedonier..
„Vor einer Stunde wurde immer noch geschossen“, sagt einer, der über Facebook bei seinen Freunden in Kumanovo nachgefragt hat. Kurz darauf fängt er plötzlich an zu lachen. Die Facebook-Seite der albanischen Miliz UÇK hat bei Facebook ihren Standort gepostet. „UÇK war hier: Kumanovo“, heißt es dort. Der Post hat mehr als 2.000 Likes. „Wenn man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll, hilft am besten, vor Lachen zu weinen“, sagt er lakonisch. Dann wird er plötzlich ernst: „Aber ehrlich gesagt: Wir glauben hier alle, dass die Regierung bei dem Angriff zumindest ihre Hände im Spiel hatte.“
Nur Glauben, kein Wissen
„Glauben“ ist ein Wort, das eine große Rolle spielt in der mazedonischen Politik. In den letzten sechs Jahren ist das Land auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit von Platz 34 auf Platz 118 gerutscht – unabhängigen Journalismus gibt es so gut wie nicht. Die Menschen können sich nur entscheiden, welchem Politiker sie glauben. Glaubt man Regierungschef Gruevski, dass die Polizei gegen eine kosovarische Terrorgruppe vorgegangen ist, dann hieße das, dass Mazedonien von einem neuen ethnischen Konflikt bedroht wäre. Glaubt man der Opposition, dann hieße das, dass die Regierung nicht einmal vor Toten zurückschreckt, um ihre Macht zu erhalten. Was stimmt, weiß hier derzeit niemand.
Am Tag nach den Anschlägen übernimmt die albanische UÇK-Miliz die Verantwortung für die Anschläge. Staatstrauer ist angeordnet. Am Montag wird es weitergehen, aber es soll ein stiller Protest werden. „Die Proteste haben sich schließlich auch gegen Polizeigewalt gerichtet“, sagt Andrej. „Aber wer will schon gegen die Polizei auf die Straße gehen, wenn gerade acht Polizisten erschossen wurden?“ Er nimmt noch einen Schluck Rotwein. „Die Proteste müssen einen neuen Namen kriegen.“
Und jetzt? Schwierige Frage. So genau beantworten will sie niemand hier. „Entweder die Proteste schlafen jetzt ein, weil die Leute zu geschockt sind“, sagt Andrej langsam. „Oder ab Dienstag eskaliert die Lage vollkommen.“ Er überlegt eine Minute. „Gerade bin ich mir über gar nichts mehr sicher“, sagt er. „Aber ich werde auf jeden Fall weiter demonstrieren.“