: Die Kunst dem Volke
THEATER I Vor 125 Jahren mischte die Freie Volksbühne die Berliner Theaterszene auf. Eine Ausstellung widmet sich ihrer Geschichte
VON MIRJA GABATHULER
„In einem Stadtteil, wo keineswegs die Begüterten wohnen, wird ein neues Theater eröffnet“, verkündete Bruno Wille feierlich, als die Freie Volksbühne 1914 am damaligen Bülowplatz endlich ihr eigenes Haus bespielen konnte: „Hier sitzen nebeneinander Maurer und Kaufmann, Schlosser und Postsekretär, Volksschullehrerin und Geheimrat, Näherin und Student.“
Was heute selbstverständlich erscheint, war damals eine fast schon revolutionäre Idee: Das Proletariat besetzte die Theaterränge, die sich bisher nur gut begüterte Bürger leisten konnten.
„Die Kunst dem Volke“ prangte lange Zeit als Schriftzug an dem Gebäude, das heute Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz heißt. Es war die Losung der Freien Volksbühne, die das Haus über seine Mitglieder finanziert hatte und bis zum Ausbruch des 2. Weltkriegs als Spielstätte nutzte. Unter dem Motto steht auch die Ausstellung, mit dem der Verein 125 Jahre nach der Gründung in den Räumen seiner Geschäftsstelle in Wilmersdorf auf seine Geschichte zurückblickt.
Verteilt auf ein gutes Dutzend Stellwände und Vitrinen, vermitteln alte Prospekte, Schwarz-Weiß-Bilder und Berichte von Zeitzeugen aus dem Nachlass im Keller des Hauses einen Eindruck von den bewegten Zeiten, die der Verein durchlaufen hat. Die Ausstellung ist klein, aber aufschlussreich, denn an der Geschichte des Vereins lassen sich auch die gesellschaftlichen Umbrüche des 20. Jahrhunderts nachvollziehen.
Abendunterhaltung auch für die Arbeiterschaft
Nicht ohne Stolz weist Frank-Rüdiger Berger, stellvertretender Vorsitzender der Freien Volksbühne und Kurator der Ausstellung, auf eine Textstelle hin, in der der Theaterkritiker Julius Bab die Gründung der Freien Volksbühne im Jahr 1890 „im soziologischen Sinne“ als „wichtigstes Theaterereignis des 19. Jahrhunderts“ bezeichnet. Den Impuls für die Gründung gab der Historiker Bruno Wille. „Uns allen gebührt die Aufgabe, die breiten Volksmassen zu den Quellen edelster Bildung und künstlerischer Erhebung heranzuziehen“, verkündete er bei der Gründungsversammlung, und drückte damit auch seine Unzufriedenheit mit dem damaligen Theaterbetrieb aus.
Theater war zu seiner Zeit, es gab noch keine Kinos, die beliebteste Abendunterhaltung. Doch die Arbeiterschaft fühlte sich davon weitgehend ausgeschlossen. Einerseits weil sie sich die teuren Karten nicht leisten konnte. Andererseits weil kaum Stücke gezeigt wurden, die sich ihrer Themen annahmen. Das Proletariat hatte ein neues Bewusstsein entwickelt, stand politisch der Sozialdemokratie nahe, die sich die Bildung und Aufklärung des gesamten Volkes auf die Fahnen schrieb. Sozialkritische Theaterstücke scheiterten jedoch meist an der Zensur durch die preußischen Behörden. Sämtliche Texte wurden vor der Inszenierung geprüft. Berger erzählt, dass sich bei öffentlichen Veranstaltungen nicht selten auch Spitzel der Polizei ins Publikum setzten. Naturalisten wie Gerhard Hauptmann und Henrik Ibsen fanden daher kaum den Weg auf die Bühne.
Die Freie Volksbühne eröffnete die Möglichkeit, solche Stücke an den Zensurbehörden vorbeizuschleusen. Gegen eine vierteljährliche Gebühr durften Mitglieder des Vereins sich die Eigenproduktionen ansehen. Tausend Leute besuchten im Oktober des Gründungsjahres die erste Vorstellung von Ibsens „Stützen der Gesellschaft“ im Ostend-Theater an der heutigen Karl-Marx-Allee. Weil in den folgenden Jahren immer mehr Menschen dem Verein beitraten, wurden bald verschiedene Berliner Bühnen bespielt. An den Flugblättern kann man ablesen, dass die Aufführungen am Sonntagnachmittag stattfanden. „Das war der einzige Tag, an dem nicht gearbeitet wurde“, erklärt Berger.
Wer im Theatersaal welchen Platz einnahm, bestimmte das Los. Auf Fotografien ist zu sehen, wie die Besucher vor dem Eingang des Theaters Schlange standen, um sich ihren Sitzplatz aus der Urne zu ziehen. Nur wer schlecht hörte oder sah, durfte in den vorderen Rängen sitzen. Berger zeigt auf einen vergilbten Zettel in einer der Vitrinen. „Ich halte einen Platz in den vorderen Reihen für notwendig“, bescheinigte der Arzt der Patientin Frieda Schultze.
Bereits in den ersten Jahren spaltete der Verein sich zwischenzeitlich an der Frage, inwiefern die Bühnenkunst sich dem Klassenkampf anschließen sollte. Solche Diskussionen wurden immer wieder geführt. In den 20er Jahren etwa sorgte Erwin Piscator mit seiner radikalen Politisierung des Theaters für Aufregung, doch die Popularität der Freien Volksbühne wuchs trotz solcher Auseinandersetzungen. Vor der Machtergreifung und der darauf folgenden Gleichschaltung der Bühnen zählte die Freie Volksbühne fast 160.000 Mitglieder.
Im oberen Stockwerk des Hauses widmet sich die Ausstellung der Nachkriegszeit. Dabei wird auch noch mal auf die beiden bekanntesten Namen eingegangen, die mit der Freien Volksbühne verbunden sind. Einerseits Gerhart Hauptmann, Namensgeber des Dramatikerpreises, den die Freie Volksbühne lange Zeit vergab. Andererseits Erwin Piscator, der wieder für die Freie Volksbühne inszenierte, als er in den 60er Jahren aus dem Exil ins kriegsversehrte Deutschland zurückkehrte. Im neuen Haus in Westberlin (heute die Berliner Festspiele), rechnete er schonungslos mit der deutschen Geschichte ab. Er zeigte etwa Peter Weiß’ „Ermittlung“ zu den Auschwitzer Prozessen. Sein dokumentarisches Theater, das mit Film auf der Bühne experimentierte, prägte auch die bald darauf einsetzenden Studentenrevolten.
Heute ist die Freie Volksbühne ein Besucherverein mit rund 6.200 Mitgliedern. Politik stehe nicht mehr auf der Tagesordnung, sagt Geschäftsführerin Alice Stöver: „Wir sehen uns eher in einer Vermittlerrolle.“ Der Leitgedanke, Personen ins Theater zu holen, die da nicht unbedingt erwartet werden, hat die 125 Jahre überdauert.
■ „Die Kunst dem Volke“ bis 18. September in der Freien Volksbühne Berlin, Ruhrstr. 6, Mo.–Fr. 10–18 Uhr