: Geschichte von der Stange
MODE Kleidungsstücke aus Duschvorhängen, vermeintliche Levis-Jeans, von vietnamesischen Vertragsarbeitern nach Feierabend genäht: Junge Ethnologen der Humboldt-Universität erkunden Kleidung aus der DDR
VON BARBARA BOLLWAHN
Sie kennen das Land nur aus Erzählungen, Filmen und Büchern und haben sich monatelang mit etwas beschäftigt, was sie selbst nicht erlebt haben. Acht Studentinnen und Studenten des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität, die nach dem Fall der Mauer geboren sind, haben die „Alltagswelt Kleidung“ in der DDR untersucht, Literaturrecherchen betrieben, Archiv- und Depotbestände gesichtet, Interviews mit Zeitzeugen geführt. Seit Mitte April ist das Ergebnis an der Humboldt-Universität zu sehen, als „Guter Stoff – Kleidung in der DDR“.
Es braucht nur einen großen Raum für die Ausstellung, die unter der Leitung der Honorarprofessorin Sigrid Jacobeit vom Institut für Europäische Ethnologie und des Historikers Stefan Wolle, der den Schwerpunkt DDR-Forschung verfolgt, realisiert wurde. Und doch ist Platz für unterschiedliche Themenfelder: Jeans als Pop-Kultur und Politikum, Arbeits- und Berufsbekleidung, Selbstschneiderei in der DDR, Modefotografie in der Sibylle, Mode als Underground, Erinnerungen lesbischer Frauen an ihr Leben in der DDR. Auf Stellwänden gibt es dazu einordnende Texte, Ölgemälde mit Werktätigen, Modezeitschriften, Schnittbögen und Berichtshefte aus sozialistischen Betrieben liefern Dokumente.
„Da wir selbst nicht ZeugInnen der Alltagswelt DDR sind“, schreiben die Studierenden in dem Begleitheft zur Ausstellung, dessen erste 200 Exemplare schnell weg waren und nachgedruckt wurde, „arbeiten wir an einer Perspektive, die Alltag und Politik nicht kategorisch trennt, sondern Bezüge und Zusammenhänge zwischen beiden darstellt“. Kleidung ist für sie ein ergiebiger Forschungsgegenstand – als persönliches, soziokulturelles und politisches Ausdrucksmittel, Medium gesellschaftlicher Einflussnahme, Mittel zum Aushandeln und Verordnen von sozialen kulturellen und politischen Differenzen.
Es ist nicht so, dass noch nie Gesehenes gezeigt wird. Optisch bilden drei Modelle aus schwarzer Folie den Mittelpunkt, deren Originale 1984 entstanden sind und von denen Repliken angefertigt wurden. Die futuristisch aussehenden üppigen Ärmel, die mehrstufigen Röcke, die gesteppte Jacke und die Hose sind aus Folie zum Abdecken von Erdbeeren gefertigt. Vor einigen Jahren wurde den Modellen in dem Dokumentarfilm „Ein Traum in Erdbeerfolie“ ein filmisches Denkmal gesetzt.
Ebenso sind Kleidungsstücke aus Duschvorhängen zu sehen, die, wie auch Baumwollwindeln oder Bettlaken, als Material dienten. Drum herum sind Jesuslatschen und Fleischerhemden ausgestellt, in der DDR produzierte Jeans und vermeintliche Levis-Jeans, die von vietnamesischen Vertragsarbeitern nach Feierabend genäht wurden.
Den Studenten geht es, so schreiben sie im Begleitheft, nicht nur um inhaltliche Aspekte in einem experimentellen Ausstellungskonzept. „Wir möchten den Raum öffnen für eine Diskussion über museale Wissensproduktion, gerade in Bezug auf Vergangenheit und Erinnerung an ein nicht mehr existierendes Staats- und Gesellschaftssystem.“ Sie wünschen sich, dass sich das Projekt durch den Austausch mit Besucherinnen und Besuchern weiterentwickelt.
Strapse fürs Selbstbewusstsein
Ein Anfang ist bereits gemacht – erste Besucher haben für den Teil der Ausstellung, der sich „Kleiderstange“ nennt, in ihre Schränke geschaut. Auf einer Kleiderstange hängt ein halbes Dutzend Stücke mit einer Geschichte dazu. Da sind etwa zwei Strumpfhalter, einer weiß, einer schwarz, zu denen die Besitzerin schreibt, dass sie die „zwei edlen Stücke“ mit etwa 20 Jahren trug, „Selbstbewusst kleidete ich mich immer als werktätige Frau, Mutter und Friseurin.“ Daneben hängt ein Kleid aus synthetischem Nappaleder, bei dem es sich nach Angaben der Besitzerin um „Großrundstrick gelackt“ handelt. Eine Herrenweste aus Cord hat eine Frau, die am Deutschen Modeinstitut gearbeitet hat, vor langer Zeit für ihren Vater genäht.
Für die Studierenden geht die Beschäftigung mit dem Thema auf jeden Fall weiter. Es wird einige Abschlussarbeiten dazu geben, und sie werden weiter der Frage nachgehen, welchen Beitrag sie als Ethnologen in Bezug auf ein nicht mehr existierendes Staats- und Gesellschaftssystem in der Museumspraxis leisten können. Die Studierenden sehen ihre Aufgabe auch darin, „die Erinnerungen an Vergangenes mithilfe von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zu erfassen“.
■ „Guter Stoff – Kleidung im DDR-Alltag“, bis 15. Mai 2015 im Lichthof des Westflügels im Hauptgebäude der Humboldt-Universität, Unter den Linden 6, Di.–Fr. 12–18 Uhr, Sa. 10–16 Uhr, Eintritt frei
■ Vom 22. Mai bis 24. Juli 2015 wird die Ausstellung im Haus der Geschichte in Wittenberg gezeigt