: Hört nicht auf ihn!
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnete in seiner Kölner Rede Assimi- lierung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Welch Unsinn! Warum Anpassung Frieden schafft
VON JAN FEDDERSEN
Man hört es von Grauen Wölfen, Taxifahrer betonen es, am Wochenende hat es der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in Deutschland gesagt, in der Köln-Arena vor 16.000 ZuhörerInnen. Türkische Migranten in Deutschland wollten Integration, aber … ja: Was aber? Keine Anpassung. Denn, so Erdogan, Assimilierung, wie das böse Wort lautet, sei ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.
Integration, Assimilierung: Zwei Worte, die im Straßendeutsch keine besondere Bedeutung haben mögen, aber doch in der Politik. Seltsamerweise haben Kanzlerin und andere jedoch erst spät darauf reagiert. Assimilierung meint nämlich: In Deutschland sollten alle Türken um Integration kämpfen, sich integrieren – aber Türken bleiben. Sie sollen gleiche Rechte haben, sich die deutsche Sprache aneignen, wenngleich er Türkisch als erste Schulsprache fordert.
Integration heißt: In Deutschland mit allen Rechten und Pflichten leben, aber im Herzen türkisch bleiben, Kulturtürken quasi.
Assimilation – die mächtige Drohformel offenbar, sonst hätte er sie nicht so prominent sowohl in Köln als auch vor der Ludwigshafener Brandruine ausgesprochen – bedeutet im Widerspruch dazu: Anpassung an das Deutsche, Enttürkisierung. Dass die Kinder von Migranten auf ihre türkischen Wurzeln keinen gesteigerten Wert legen, wenn sie es wollen; dass sie ein anderes, liberales Verhältnis zur Geschlechterfrage finden; dass sie Deutschland als ihre Heimat wie als ihr Vaterland anerkennen – und das in Differenz zur Türkei, das für sie Ausland ist, kulturell, staatsbürgerlich, politisch. Dass ihre Kanzlerin aktuell Angelika Merkel heißt und Erdogan allenfalls ein ferner Verwandter ist.
Erdogans brisante Floskel muss als Indiz für die Angst des Ministerpräsidenten genommen werden, dass jene BürgerInnen, die sein Land verlassen oder es noch tun werden, ihr türkisches Bewusstsein einbüßen, ebenso das nationalistisch gefärbte Verständnis von Türkentum. Kein Deutscher in den USA, kein Kolumbianer dort oder ein Vietnamese würde Assimilation an den amerikanischen Weg des Lebens als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sehen – Assimilierung ist dort ein täglicher Prozess des Überlebens, also des Ein- wie Vermischens.
Aus der Neurobiologie ist überliefert, dass es keine Integration ohne Assimilierung gibt. Wer in ein System will, muss sich an es anpassen – und wird sich verändern. So wie auch das gegebene System sich mit den neuen Teilen verändert. Gesellschaftlich gesprochen: So wie die Attributierung „deutsch“ schon immer eine künstliche Anordnung des nicht Anzuordnenden war, so hat sich dieses Land grundsätzlich durch Migranten verändert. Kein Wunder, dass sehr viele der jungen ZuhörerInnen Erdogans in Ludwigshafen mit Kopfhörern zu sehen waren – für die deutsche Übersetzung der türkischen Rede. Umgekehrt gilt: Döner und Kebab sind deutsche Speisen, wie auch Namen deutsch werden, etwa Ayse oder Mohammed. Das lässt viele Deutsche rätseln, ob das in Ordnung sein kann – aber offenbar auch viele Türken, die um ihre Identität bangen.
Die Formel vom „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wirft aber doch eine Frage auf: Wenn schon die Einordnung in ein neues Kultursystem, das den Islam als Minderheit respektiert, das Geschlechtertrennung stetig verhandelt und die Minderheiten schützt, als kriminell gilt – was ist dann echte Kriminalität?
Dass Erdogans Ansprachen gerade bei nationalbewussten Türken in Deutschland auf offene Ohren treffen, mag mit der Neigung vieler Türken zu tun haben, die eigene Nation für das Licht der Welt zu halten, gegen die andere nur verschattet wirken können. Andererseits wird ihnen dieses Geschäft auch leicht gemacht von allen Politikern, die das Deutsche für eine fixe Größe halten und türkische Migranten für wenig anpassungswillig. Es wäre klüger, das Faktische zu beherzigen: Deutschland ist längst keine Blut-und-Boden-Nation mehr, sondern ein Sammelsurium unterschiedlicher Herkünfte und Traditionen.
Aus der Neurobiologie ist wiederum bekannt: Nur Systeme (und die in ihnen wirkenden Synapsen), die offen für Einflüsse durch hinzukommende Elemente sind, überleben. Purifizierungen („das Deutsche“, „das Türkische“) sind mit dem wahren Leben nie in Deckung zu bringen. Die Fähigkeit zur Assimilation setzt, die französische Politologin Chantal Mouffe (jüngst in „Über das Politische“) recht verstanden, einen Abschied vom Alten voraus. Und die Lust auf das Neue. Bei den Neuen wie den Eingesessenen. Vermischung, so Mouffe, stiftet Frieden!