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ÖkologieFünf vor zwölf im Urwald

Seit vier Jahrzehnten erforscht die TU auf einem Dahlemer Grundstück, wie sich Natur unter Großstadtbedingungen entwickelt. Jetzt will sie das lukrative Fleckchen Erde verkaufen.

Dem Gottesgnadenkraut geht es an den Kragen, der Sibirischen Schwertlilie auch und dem Ährigen sowie Langblättrigen Blauweiderich. Sie alle genießen gesetzlichen Schutz nach der Bundesartenschutzverordnung und eine sehr gefragte Lage in Dahlem mit guter Innenstadtanbindung. Dort sprießen sie seit 40 Jahren zusammen mit 386 anderen, teils ebenfalls geschützten Kräutern, Gräsern und Bäumen wild und ungestört auf einem 3.000-Quadratmeter-Grundstück. Sandbirken, bis zu 20 Meter hoch, dazwischen junge grüne Triebe und knorriges Gebüsch. Je tiefer man auf dem weichen, hellgrünen Moosboden in das Gelände hineingeht, desto finsterer wird es, desto kräftiger duftet es nach Humus und nach feuchter Rinde. Man riecht es nicht, dass hier etwas stinkt.

"Dies ist der einzige Urwald der Republik", sagt Franz Rebele. Gesetzt und unaufgeregt dringen seine Worte durch den grauen Vollbart. Outdoor-Jacke, Holzfällerhemd, Brille mit Rand. Nicht "öko", sondern Ökologe. Wissenschaftlich ist er mit dem Wald groß geworden. Fachgebiet: Wachstumsforschung. Rebele lehrt am Institut für Ökologie an der Technischen Universität Berlin. Hier hat er studiert, promoviert, habilitiert. Er kennt jeden Zweig und jedes Fleckchen Boden des "ökologischen Versuchsgartens", der eine Ernte von 63 wissenschaftlichen Aufsätzen, 7 Dissertationen und 3 Habilitationen hervorgebracht hat. Der Obergärtner des akademischen Urwalds ist die Technische Universität, und ausgerechnet die will ihn jetzt verkaufen. Der auf dem Gelände wohlgedeihende Glatthafer war es nicht, der die Verantwortlichen stach.

 

Eher der Profitwahn, vermutet Rebele. Im Internet ist das "sonnige Baugrundstück mitten im Herzen von Berlin-Dahlem" zum Preis von 1.650.000 Euro zu kaufen, plus Mehrwertsteuer und Provision. Der Verkauf wäre das Ende für ein Forschungsprojekt der ganz besonderen Art. Rebele und sein Kollege Reinhard Bornkamm, langjähriger Leiter des renommierten Instituts für Ökologie, sind die Eingeborenen des Urwäldchens, das zwischen den Buchsbaumhecken und Zierkoniferen der Nachbargärten wie ein Farnstrauß im Geranienbeet wirkt. 1968 hat Bornkamm das Gelände von der TU als Versuchsfläche bekommen. Bornkamm wollte wissen, wie ein Wald entsteht, ohne Pflanzungen und ohne Dünger. Nur mit Geduld.

Das Besondere: Der Boden ist unterschiedlich beschaffen. Aufgeschüttet haben ihn die Thomasphosphatfabriken, früher ein Düngemittelunternehmen, das das Grundstück bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als landwirtschaftliche Versuchsanstalt nutzte. Ziel der Versuche damals war, den Ertrag von Getreide auf unterschiedlichen Böden mit Dünger zu optimieren.

Ganz vorne, wo der Zaun das Gelände von der Dahlemer Löhleinstraße trennt, liegt schwere, doch nährstoffreiche Tonerde. Sie ist eher grau als braun und zu hart, um den Finger tief in den Boden hineinzustecken. Von Meter zu Meter, die in Parzellen von einem Quadratmeter Größe abgeteilt sind, wird die Erde lockerer, sandiger und ärmer an Nitraten. Die Bäume, Birken vor allem, werden dafür immer größer. "Je nährstoffreicher der Boden, desto schwieriger tun sich die Gehölze, zumindest in den ersten zwanzig Jahren", erklärt Rebele. Doch nicht nur das ist erstaunlich. Je mehr es in der Erde zu holen gibt, desto weniger Arten fassen dort auch Fuß.

Insgesamt 390 verschiedene Samenarten flogen in den vergangenen 40 Jahren in die Dahlemer Vorstadt und wurden sesshaft. Manche kamen von weit her, einige - wie die Walnuss - aus Nachbars Garten. Die meisten aber sind typische Berliner oder waren es, weil sie anderswo ausgerupft, zurückgedrängt und weggefressen wurden. "Hier, schauen Sie mal!" Mit strahlenden Augen hockt Rebele, die Hände schützend erhoben, vor einem 20 Zentimeter hohen Stängel. "Eine Waldbuche. Man dachte eigentlich, dass sich wegen der Klimaveränderungen in Berlin gar keine Buchen mehr ansiedeln", sagt er und redet noch ein Weilchen über Säure-Amplituden und großklimatische Verhältnisse. 1986 hat Rebele fünf Parzellen angelegt, die er mit Steinkohle, Kies, Hochofenschlacke, einem Schlacke-Lehm-Gemisch und Betonbruch füllte. Heute, 20 Jahre später, steht auf der Kohle eine 10 Meter hohe Birke, über dem Beton hat sich eine Humusschicht gebildet, auf der Waldkiefer und Weißdorn gedeihen. "Das dürfte hier das artenreichste Fleckchen Erde in Berlin sein."

Dieses Fleckchen sollte vor ziemlich genau zehn Jahren auf Drängen der Senatsverwaltung für Finanzen schon einmal verkauft werden. Die TU lehnte damals ab mit der Begründung, auf dem Gelände würden ökologische Dauerversuche durchgeführt, "die in dieser Form einmalig für städtische Ökosysteme in Mitteleuropa sind." Die Versuche lieferten "unabdingbare Erkenntnisse für Renaturierungs- und Rekultivierungsmaßnahmen in stark von Menschen gestörten und überformten Landschaften". Auf die Nutzung des Grundstücks könne die Hochschule daher nicht verzichten. Das war 1997. 2007 kann sie es. Denn 2003 änderte der Senat die Hochschulverträge und gestattete den Universitäten, den vollen Erlös aus Grundstücksverkäufen zu behalten, statt nur die Hälfte.

"Alle Versuche haben mal ein Ende", argumentiert nun Ralf Peinemann aus derselben Abteilung für Bau- und technische Angelegenheiten der TU, die den Erhalt der Versuchsfläche zuvor für "unverzichtbar" erklärte. "Für die Verwaltung ist das hier nur ein verwildertes Grundstück", sagt Rebele, der Jahr für Jahr rund einen Monat netto in dem Garten die Arten zählt, Bodenproben entnimmt, das Wachstum der Bäume misst. Überhaupt habe bei der TU "die ökologische Forschung nicht mehr den Stellenwert wie vor 20 Jahren". Aber nicht nur die Technische Universität vernachlässige zu Zeiten des Klima-Mentalitätswandels die Umweltschutzforschung. Auch das Land trage dazu bei, dass Berlin nichts weiter sei als ein "grünes Klischee".

Rebele nennt die Kleingartenkolonie "Württemberg" in Charlottenburg, die der Bezirk an einen Investor verkaufte, der Luxuslofts und Tiefgaragen baut; nicht weit davon müsse Berlins einst größter Biergarten, "Loretta im Garten", nach dem Verkauf durch den Liegenschaftsfonds einem Hotel weichen; die verkaufte Halbinsel im Groß Glienicker See stehe zum großen Teil unter Naturschutz - und bald unter dem Baudruck eines Großinvestors. Andere können die Liste fortsetzen. Eine Bürgerinitiative setzt sich - wohl vergeblich - für den Erhalt von möglichst viel urwüchsigem Baumbestand auf dem riesigen Areal zwischen Gleisdreieck und Yorckstraße ein; Bewohner von Prenzlauer Berg stehen fassungslos vor den Plänen der Sankt-Petri- und Sankt-Marien-Kirchengemeinde, Teile des Marienfriedhofs zur Bebauung freizugeben.

Negative Baumbilanz

Die Grünen kritisieren, dass die Rücklagen, die das Land bilden muss, um die Versiegelung neu bebauter Flächen durch Pflanzungen an anderer Stelle zu kompensieren, nicht investiert werden. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung selbst stellt fest, dass Berlin jedes Jahr rund 800 Straßenbäume verliert. Ein Bündnis für Berliner Bäume hat sich zusammengeschlossen. In diesen Tagen will es ein Volksbegehren starten, um "die negative Baumbilanz umzukehren".

Franz Rebele meint, dass die Verantwortlichen immer weniger übrig haben für naturbelassene Flächen: "Verstärkt findet in diesem Jahr ein Ausverkauf an grünen Grundstücken statt. Da ist es nur folgerichtig, wenn man auch die Forschung über die Bedeutung von Grünflächen in der Großstadt kaputt macht." Vor allem über die Bedeutung von Wald in der Innenstadt herrsche Unkenntnis. "Wald dämpft die Extreme, bei sternklarer Winternacht spendet er Wärme, bei Hitze bleibt er kühl." Rebele ist in seinem Element: "Ich habe in meinem Auto einen Wärmefühler. Der misst 32 Grad, wenn ich am ICC vorbeifahre. Biege ich in den Hüttenweg im Grunewald ein, sind es nur noch 27 Grad." Das liegt daran, dass der Wald schwitzt - wie der Mensch, um sich abzukühlen.

Nachdenklich bückt sich Rebele nach einem gelb gefärbten Blatt. "Das ist eine Schwarzpappel, steht auch auf der Roten Liste. Die Blasenlaus nistet sich im Stiel ein, hier in diesem Knoten, der Galle." Eine Weile vertieft sich der Ökologe in den Anblick des Blättchens. Dann wendet er sich ab. "Die steht auch nicht mehr lange."

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