: BUCHTIPP
Keine Ferne war ferner
„Ich könnte jahrelang zu Hause sitzen und zufrieden sein“, schreibt Joseph Roth. „Wenn nur nicht die Bahnhöfe wären.“ Ja, wenn nicht die Bahnhöfe wären, dann wäre die Literaturgeschichte um einige Attraktionen ärmer. Bahnhöfe sind Orte der Literatur. Orte, die Schriftsteller magisch angezogen haben, wie etwa Marcel Proust, für den Bahnhöfe „die Essenz ihrer Persönlichkeit so deutlich enthalten, wie sie auf dem Signalschild ihren Namen tragen“.
Bahnhöfe sind die Orte der Ankunft und des Abschieds, Orte, an denen sich das Leben zum Drama verdichtet – oder seine Zufälligkeit, gar Ödnis nur umso schamloser ausstellt. Bereits im Jahre 2003 ist im Insel Verlag eine literarische Textsammlung zum Thema erschienen, Mario Leis’ Buch „Bahnhöfe“, das Texte von Fontane, Proust, Hesse, Handke und anderen Autoren versammelt. Ähnliches hat auch Lis Künzli, die in Toulouse lebende Herausgeberin des jetzt erschienenen Bandes „Bahnhöfe. Ein literarischer Führer“ im Sinn. Das Buch versammelt Texte einiger der wichtigsten Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts: Für Georges Simenons Kommissars Maigret ist es der Pariser Gare du Nord, dem er eine Liebeserklärung macht. Ein düsteres, unheimliches Gebäude, ein Ort des Zerfalls – von Mauern und Menschen, die als Leichen in den Schließfächern lagern. Maigrets, Simenons Liebe zum Gare du Nord dürfte vielen Lesern bekannt sein, Italo Svevos „Kurze sentimentale Reise“ des „Herrn Aghios“ vermutlich kaum. Jener Herr Aghios ist überaus glücklich, seine Frau an der Mailänder Stazione Centrale zurückzulassen und sich in ein Eisenbahn-Abenteuer zu stürzen, das ihm ein Fitzelchen Freiheit verspricht – und zu den erquicklichsten der Weltliteratur zu zählen ist. Bahnhöfe sind Orte des Aufbruchs, der Bewegung, des Flüchtigen, der Hoffnung schließlich, die Vergangenheit abzustreifen. Der 1959 gesprengte Anhalter Bahnhof in Berlin war Walter Benjamin ein solches „Tor in die blaue Ferne“: „Keine Ferne war ferner, als wo im Nebel die Gleise zusammenliefen. Doch auch die Nähe, die mich eben noch umfangen hatte, rückte ab.“ Für Kästners „Fabian“ war der Anhalter Bahnhof ein Rettungsanker gegen die Wirklichkeit, gegen dieses „hoffnungslose, unbarmherzige Labyrinth“ der Großstadt Berlin.MARC PESCHKE
Lis Künzli (Hrsg.): „Bahnhöfe. Ein literarischer Führer“. Mit Texten von Antonio Tabucchi, W. G. Sebald, George Simenon, Italo Svevo u. v. a. Gebunden, 192 Seiten, 24,2 x 16,6 cm. Eichborn Berlin 2007, 24,90 €