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Archiv-Artikel

Wille besiegt Biorhythmus

Das Abitur auf einer Abendschule nachzuholen ist anstrengend – vor allem, wenn man tagsüber noch arbeitet. Etwa 30 Prozent der Schüler geben auf, weil sie sich überschätzt haben

VON ELISABETH WEYDT

In den Fluren der Abendschule „Vor dem Holstentor“ hängen die Bilder eines ehemaligen Schülers – er ist Künstler geworden. Ein anderer Schulabgänger, sagt Schulleiterin Maren Heimlich-Höppner, sei mittlerweile ein bekannter Chirurg und Professor in Amerika. „Er hat alle Abschlüsse von der Hauptschule bis zum Gymnasium bei uns gemacht.“

Es ist also zu schaffen. Man kann an einer Abendschule die versäumten Schulabschlüsse nachholen, um einen neuen Beruf zu ergreifen. Die allgemeine Hochschulreife über den zweiten Bildungsweg bieten in Hamburg die beiden staatlichen Schulen „Vor dem Holstentor“ und „St. Georg“ sowie das private Abendgymnasium der Brechtschulen an.

„Aber es ist hart“, räumt Heimlich-Höpper ein. Sie hätten Schüler, die schon um fünf Uhr früh in ihrem normalen Beruf anfangen müssten zu arbeiten. Andere haben tagsüber Kinder und Haushalt. „Es ist eine tolle Leistung, wenn man das schafft.“, sagt Heimlich-Höpper. Durchschnittlich 30 Prozent schaffen es nicht. Sie brechen in der ersten Phase ab, weil sie die Anforderungen unterschätzt haben. Die täglichen Unterrichtseinheiten von 17.30 Uhr bis circa 21.30 Uhr belasten die Schüler enorm. Wer das Abitur anstrebt, muss drei Jahre lang Zeit für abendliches Lernen finden, der Realschulabschluss braucht zwei Jahre, der Hauptschulabschluss ein Jahr Durchhaltevermögen.

„Das ist natürlich sehr anstrengend“, meint auch Peter Struck, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg. Er ist Experte für den Zusammenhang von Biorhythmus und Lernerfolg. „Man kann immer lernen, auch nachts um zwei Uhr, aber zweimal am Tag geht es besonders gut.“, sagt er. Die zwei leistungsfähigsten Tagesabschnitte eines Erwachsenen seien zwischen acht und zehn Uhr morgens und zwischen 14 und 16 Uhr nachmittags. Dass die Unterrichtsstunden der Abendschule außerhalb dieses Zeitfensters liegen, sei aber nicht sehr tragisch. Erwachsene könnten sich umstellen. „Der Biorhythmus ist angeboren und Hormon gesteuert, aber man kann sich einen anderen antrainieren.“, sagt Struck. Das anstrengende an der Abendschule sei vor allem die Mehrfachbelastung. „Aber der Wille ist dann immer stärker als der Biorhythmus.“

Um dem Biorhythmus auf die Sprünge zu helfen, gibt Struck neben Koffein einen Tipp: Haferflocken in lauwarmer Milch mit Kirschen nach 16 Uhr. Die Pantothensäure würde den Geist wach halten. Vormittags mache diese Mahlzeit allerdings schläfrig.

Ein wacher Geist und ein starker Wille sind wichtig. Schließlich muss in den Abendstunden dieselbe Stoffmenge durchgenommen werden wie an anderen Schulen an einem Tag. Dennoch sei die Unterrichtsatmosphäre entspannter als an gewöhnlichen Schulen, sagt Schulleiterin Heimlich-Höpper. Das liege nicht zuletzt auch am Alter, die meisten Abendschüler sind 25 bis 35. „Das Auftreten der Schüler ist anders“, sagt Heimlich-Höpper. „Sie sind anspruchsvoller und wollen eine effektivere Nutzung der Unterrichtszeit.“ Die üblichen Machtspielchen zwischen Lehrern und Schülern fielen weg.

Das Interesse an dieser erwachsenen Art des Lernens ist seit Jahren konstant. Am größten ist der Andrang auf den Realschulabschluss. Zweimal im Jahr bewerben sich an der Abendschule „Vor dem Holstentor“ durchschnittlich 200 Menschen auf 60 freie Plätze.

An den staatlichen Schulen sind die Schulabschlüsse des zweiten Bildungswegs kostenlos, sieht man von den 30 bis 70 Euro Büchergeld ab. Die Brechtschulen verlangen eine Aufnahmegebühr von 150 Euro, dazu kommt ein monatliches Schulgeld von 78 Euro.

Brecht-Schulen, ☎ 040 – 280045 – 0; Abendgymnasium Vor dem Holstentor, ☎ 040 – 428986 – 01; Abendgymnasium St. Georg, ☎ 040 – 428974 – 21