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Archiv-Artikel

Gemüse mit Persönlichkeit

Der Saatgutgärtner Reinhard Ehrentraut züchtet und vermehrt regionale Gemüsesorten. Mehr als 180 Saatherkünfte hat der 40-Jährige in privaten Gemüsegärten bislang ausfindig gemacht. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist der Grünkohl

VON DIERK JENSEN

Reinhard Ehrentraut ist ständig alten Gemüsesorten auf der Spur. Der Saatgutgärtner aus der Gemeinde Rauderfehn in Ostfriesland sichtet, züchtet und vermehrt seit über zehn Jahren regionale Gemüsesorten. Mehr als 180 Saatherkünfte hat der 40-jährige Bauernsohn in privaten Gemüsegärten der Umgebung schon ausfindig gemacht. Als Mitglied von Dreschflegel, einer Vereinigung von bundesweit elf biologischen Saatgutvermehrern und Züchtern, vertreibt er seine Saat an interessierte Hausgärtner und Selbstversorger. Insgesamt 110 Sorten zählt sein Angebotssortiment inzwischen. Die Nachfrage steigt.

Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist der Grünkohl, das einst für die nordwestdeutsche Region so typische Gemüse. Ehrentraut hat mittlerweile 26 Herkünfte in seinem Garten. „Schauen Sie, wie unterschiedlich die in Wuchs, Farbe und Blattbeschaffenheit sind“, freut sich Ehrentraut an den Nutzpflanzen auf seinem ein Hektar großen Beobachtungs- und Vermehrungsgarten. Dort gedeiht auch die sogenannte Ostfriesische Palme, die mit einer stattlichen Höhe von 1,80 Metern alle anderen Sorten überragt. Nomen est omen: Ihr Strunk und die seitwärts abstehenden Blätter ähneln tatsächlich tropischen Palmen. Ein Gramm Saat reicht für ein Palmenwald mit 100 Pflanzen. Gleich daneben steht ein fast bläuliches Exemplar, der „Diepholzer Dickstrunk“. „Das sind ganz unterschiedliche Charaktere, jede Landsorte ist eine eigene Persönlichkeit“, spricht der Züchter respektvoll von seinen Sorten – als seien sie Menschen.

Begeistert ist Ehrentraut auch von der geschmacklichen Vielfalt der alten Landsorten, die in normalen Saatguthandlungen schon aus saatgutrechtlichen Gründen gar nicht anzufinden sind. Bemerkenswert die gesundheitliche Robustheit des alten Regionalgemüses, die sich der Züchter mit der optimalen Anpassung an den jeweiligen Standort erklärt.

Jedoch drohen die alten Sorten wie die Ostfriesische Palme unwiederbringlich verloren zu gehen, wenn sich nicht Ehrentraut und seine wenigen Mitstreiter um die alten Sortenherkünfte kümmern. Viel Geld ist damit auf jeden Fall nicht zu verdienen. Da kam es sehr gelegen, dass seine aufwendige Sammelarbeit im Rahmen eines EU-Projekts (Regionen-Aktiv) für eine gewisse Zeit finanziert wurde.

Der Hauptgrund für den Verlust alter Gemüsesorten liegt in der Tatsache, dass das tradierte Erhaltungssystem mit der heutigen Rentnergeneration zu Ende zu gehen scheint. Die Jüngeren nehmen sich in der Regel nicht mehr die Zeit, einen Nutzgarten zu halten. Sie säen lieber Rasen und basta.

Für Ehrentraut ist das ein schwerwiegender kultureller Verlust, der nicht nur in Ostfriesland, sondern in vielen Regionen Europas zu beobachten ist. Darüber zu lamentieren bewege allerdings wenig, meint der begeisterungsfähige Saatgutgärtner. „Statt zu jammern, ist für mich viel spannender, herauszufinden, wie es gelingt, die Nutzgartenkultur und damit die Vielfalt in die Moderne hinüberzuretten.“ Denn für ihn ist Säen, Wachsen, Pflegen, Ernten und Essen nicht nur ein Zyklus, sondern auch eine Sache des Lebensstils. Die Wertschätzung dafür will er in der Öffentlichkeit wieder wecken und wirbt dafür auf Vorträgen. So ist der Rotschopf in der ostfriesischen Region mittlerweile bekannt für sein Engagement. Manchmal kommen sogar wildfremde Leute bei ihm vorbei und geben alte Saat ab.

Welche Schätze der ostfriesische Noah bewahrt, ist in seinem halb unterirdischen Saatgutlager, einem ausrangierten Tank aus dem Hamburger Hafen, zu bestaunen. Schachtel an Schachtel liegt hier Saat von Gemüse und auch von Zierblumen: Andenbeere, Ochsenzungensalat, Wilde Rauke, Erdbeerspinat, Dauerwirsing, Bechermalve, Sonnenflügel. Dabei steht Ehrentraut erst am Anfang. „Sich auf engem Raum züchterisch zu bewegen ist spannend. Es gibt noch viel zu tun.“ Kein Zweifel besteht daran, dass seine Zuchtarbeit in Zeiten des Klimawandels und bedrohter biologischer Vielfalt von großem Wert ist. Auch für die Landwirtschaft.