: Armutszeugnis für den Arbeitsminister
Peinlich für Olaf Scholz: Der Arbeitsminister muss seine optimistische Lesart des neuen Armutsberichts korrigieren
BERLIN taz ■ Das Kabinett hat am Mittwoch den Armutsbericht beschlossen. Auf die Frage, wie viele Menschen in Deutschland arm sind, gibt er viele Antworten. Die dramatischste basiert auf dem sozioökonomischen Panel (SOEP), einer Statistik des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Im Jahr 2005 lebten demnach 18 Prozent der Deutschen in Armut, also fast jeder fünfte. Die europaweit vergleichbare Studie EU-Silc verzeichnete 2005 nur 13 Prozent Armutsgefährdete.
Um diese Zahlen – und das politisch brisante Gefälle zwischen ihnen – hat es in den letzten Wochen ein beispielloses Gezerre gegeben. Den Anfang machte Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD). Er stellte im Mai eine erste Version des Armutsberichts vor, den er nicht mit den anderen Ministern abgestimmt hatte – wohl auch, um die Interpretation der Zahlen vorzugeben. Denn er stellte die Statistik EU-Silc in den Vordergrund, die die Armutslage schöner zeichnet.
Die mit den anderen Ministern und Verbänden abgestimmte Variante berichtigt diese Kommunikationsstrategie auf dem Papier. Die Ergebnisse werden nicht mehr so bunt gemischt wie in der alten Version. Gleichzeitig sind in einem Kasten nun die Statistiken, ihre Datengrundlagen und ihre Ergebnisse aufgelistet. Warum sich die Zahlen so gravierend unterscheiden und welche der Realität am nächsten kommen, weiß man im Ministerium nicht. „Das hat uns noch niemand plausibel erklären können“, heißt es dort lapidar.
Der Opposition reichen die Korrekturen nicht: Nach wie vor lese sich der Bericht „wie ein misslungener Versuch, die Versäumnisse der Regierung in der Armutsbekämpfung schön zu verpacken“, sagte Markus Kurth, der sozialpolitische Sprecher der Grünen. Auch Wissenschaftler haben Zweifel. So ist in einer EU-Silc-Statistik zu lesen, dass sich Armut zwischen 1998 (12 Prozent der Deutschen) und 2005 (13 Prozent) kaum verändert hat – doch in der Reihung mischt die Tabelle zwei Studien. „Das erweckt den Eindruck, es hätte sich nichts getan“, so Statistikforscher Markus Grabka vom DIW.
Selbst wenn nicht klar ist, wie genau die Zahlen die Situation jeweils beschreiben – viele Ergebnisse sind alarmierend. So nahm die Ungleichverteilung zu. Während der Anteil höherer Einkommen wuchs, sanken die Anteile niedriger Einkommensgruppen. Gleichzeitig wächst der Niedriglohnsektor: 2005 blieben die Verdienste von mehr als einem Drittel der Beschäftigten unterhalb der Niedriglohnschwelle, Anfang der 90er-Jahre war das nur bei etwas mehr als einem Viertel der Fall.
Für Grabka ist ein anderes Phänomen entscheidend: „In den vergangenen Jahren sind die Chancen, aus Armut in andere Einkommensschichten aufzusteigen, gesunken.“ Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung belegt: Nur jedem achten Geringverdiener gelang zwischen 1999 und 2005 der Sprung über die Niedriglohnschwelle. ULRICH SCHULTE
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